Qualität des WM-Fußballs: Fantastische Unwägbarkeiten

Kann der Fußball, der während der WM gespielt wurde, mit dem in der Champions League mithalten? Ja. Und schöner ist er auch noch.

Ein Vogel auf dem Rasen eines Fußballstadions

Und die Zuschauer erst: So nah dran! Ein Vogel auf dem Finalrasen in Moskau Foto: dpa

Die, die keine Ahnung haben, werden sich nun beschweren. Gegen Real, gegen Liverpool hätte keiner dieser Mannschaften auch nur den Hauch einer Chance gehabt! In der Champions League wird der viel bessere Fußball gespielt! Und sogar in der Bundesliga bekommt man bessere Spiele zu sehen! Selbst Kaiserslautern hätte den Titel gewinnen können! Überhaupt: Vereinsfußball! Viel besser, doller, krassomater! Da sieht man auch, was passiert! Das ist das große Ding.

Das ist richtig, aber falsch. Es ist ja gerade das Schlimme am Vereinsfußball höherklassiger Ausprägung: Man weiß genau, was passieren soll. Und dann muss schlicht nur überprüft werden, ob die Erwartungen auch erfüllt werden. Der Zuschauer als Bürokrat. Jedes Spiel ist eine Seite in einem Ausmalbuch, die grundlegenden Linien sind vorgegeben, und wehe, eine Mannschaft malt über den Rand.

Eine Nationalmannschaft aber ist ein leeres Blatt Papier. Es gibt nur unzureichende Erklärungen vorab, warum wer wie spielt, es ist nichts vorgestanzt. Der Zuschauer muss sich die Gründe für das Spiel – und beim Spiel selbst obendrein! – denken. Er muss das ganze Turnier denken, er denkt sich die Mannschaft mehr, als sie ist.

Die große Herausforderung einer WM ist die Dynamik. Es spielen hier Mannschaften unter erschwerten Bedingungen: Das sind Teams, die man nicht zusammendenken kann, sondern irgendwie kombinieren muss. Der Zufall führt sie zusammen. Und dann gilt es. Den Sinn dahinter baut jener, der es sieht. Ob einer Mannschaft eine WM gelingt oder nicht, hängt am Ende von jenen Details ab, die vorher keiner auf dem Schirm hatte. Nationalmannschaft ist Kontrollverlust.

Das widerspricht dem Prinzip der Vereinsmannschaften, wo alles möglichst planbar sein soll. Der wichtigste Trainer der Gegenwart ist der neurotisch kleinteilige, kontrollettige Pep Guardiola; auf ihn geht auch der Risiko vermeidende Ansatz des defensiven Ballbesitzfußballs zurück. Der ist übrigens bei dieser WM grandios gescheitert: Spanien und Deutschland wurde zum Verhängnis, dass sie als Maschine gedacht wurden, wo sie Körper hätten sein sollen.

Gegen Guardiola

Denn dieses Prinzip der Absicherung funktioniert, wenn man Zeit hat; bei einer WM aber hat man keine Zeit. Dieses Prinzip funktioniert, wenn man Geld hat, um sich seinen Wunschzettel zusammenzuklauben.

Wie prosaisch! Nationalmannschaften hingegen sind ein Ort der Unwägbarkeiten. Wer hätte gedacht, dass sich Schweden derart zusammenfindet, trotz eines Shitstorms gegen einen ihrer Mitspieler? Wer hätte gedacht, dass Frankreich sich so zu disziplinieren versteht? Wer hätte gedacht, dass die russische Mannschaft sich so sehr an sich selbst begeistern kann? All das sind Fragen, die an die Welt gestellt werden, unvorhersehbarerweise.

Und genau das macht eine Weltmeisterschaft so unzynisch. Denn Guardiola und seine Jünger rechnen damit, dass ihnen ihre Berechnungen recht geben; man muss eine Nische finden, oder sich genau die Spieler zusammenklauben, die in ihr System passen. Eine WM hingegen ist der Ritt auf der Rasierklinge, eine Improvisationsleistung: die Mannschaften sind mehr als ihre Einzelteile.

Das Publikum nimmt das auf, was ihm angeboten wird, und fügt es dann selbst zusammen; es braucht den emanzipierten Zuschauer, der sich eine Idee gemacht hat, oder drei, oder zwölf. Es braucht einen Zuschauer, der denkt, der Vorstellungsvermögen hat. Der in der Lage ist, einen Gedanken zu fassen, ohne dass er ihm bereits vorgegeben wurde. Romantisch zu glotzen reicht dann nicht.

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