Rape Culture und Trolle auf Twitter: Was zu beweisen war

Menschen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, twittern über ihre Sprachlosigkeit – und ernten Spott und Drohungen. Ganz toll, Internet.

zwei leere Sprechblasen

Schweigen kann viele Gründe haben. Foto: knallgrün / photocase.de

Das Internet hat mal wieder gezeigt, was es kann: hilfreich, schnell und scheiße sein, und zwar alles gleichzeitig. Los ging es mit Clickbait von Springer: Am Samstag veröffentliche Welt Online einen Text über die Kunst- und Kulturhistorikerin Camille Paglia, die nicht nur Klimawandelleugnerin ist, sondern kürzlich auch erklärt hat, es gäbe eine „geschwätzige Propaganda“ über Vergewaltigung. Frauen würden sich zu sehr als Opfer darstellen und von einer „überpolitisierten, opferzentrierten Rhetorik“ verführen lassen: „Rape Culture“ sei ein „lächerlicher Begriff“.

„Sex ist immer ein gefährliches Wagnis“, sagt Paglia in einem englischen Interview, aus dem Welt Online einen Text machte mit dem Titel „Das Schreckensmärchen von der Vergewaltigungskultur“. Eine Frau, die über andere Frauen herzieht, das klickt immer gut.

Viele Frauen, die auf Fragebögen angekreuzt hätten, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, hätten diese nie angezeigt, schrieb Welt Online und fragte: „Vielleicht geht es in vielen Fällen gar nicht um Vergewaltigungen, sondern um Sex im Zustande des Vollrausches und nachträgliche Reue?“ – Das ist ein Denkfehler, den man genau dann macht, wenn man keine Ahnung von sexualisierter Gewalt hat. Oder wenn man sich gern einreden will, dass bestimmt alles okay ist.

Wenn jemand sexualisierte Gewalt erlebt hat und darüber nicht spricht oder sie nicht anzeigt, heißt es eben nicht, dass die Tat nicht stattgefunden hat. Es kann viele Gründe haben, warum Menschen schweigen. Über diese Gründe muss man sprechen, fanden am Samstag einige Twitter-Nutzer_innen. Unter dem Hashtag #whyisaidnothing – warum ich nichts sagte – begann Marlies Hübner (@outerspace_girl), zu erzählen, warum sie selbst über ihre Erfahrungen nicht sprechen konnte. Weil ihr gesagt wurde: “Du wolltest es doch auch“. Weil sie die Tat nicht bei einem männlichen Polizisten anzeigen wollte. Weil die körperlichen Schäden „nicht genug“ waren. Weil sie gelernt hatte, sich zu schämen.

„Ich hatte das Bedürfnis, mich dem Artikel in der Welt, in dem Rape Culture verleugnet wurde, entgegenzustellen“, sagt Hübner. „Ich empfand es als dringend notwendig, aufzuzeigen, dass Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe, die nicht zur Anzeige gebracht werden, trotzdem existieren.“ Schnell fanden sich weitere Frauen und Männer, die über ihre Erfahrungen berichteten. Der Hashtag verbreitete sich so schnell, dass er in der Nacht von Samstag auf Sonntag zum zweitmeistbenutzten Schlagwort in Deutschland wurde.

Nach dem vierten oder fünften „Nein“

Eine ähnliche Aktion hat es mit “Ich hab nicht angezeigt“ schon 2012 gegeben. Damals ging es explizit um Anzeigen sexualisierter Gewalt. Bei #whyisadnothing ging es nun auch schon ums bloße Reden über die Erfahrungen.

„Weil ich mir nach dem vierten oder fünften Nein albern vorkam, aber auch keine hysterische Szene machen wollte“, schrieb eine Frau. Eine andere: „Weil in meiner Erziehung Sexualität als die Pflicht der Frau gegenüber dem Mann definiert wurde“. Einige berichteten von ihrer Angst, nur noch als Opfer gesehen zu werden oder als Junge oder Mann nicht als Opfer anerkannt zu werden. Andere erzählten, sie hätten zum Zeitpunkt der Tat schlicht nicht verstanden, was da passierte, weil sie zu jung waren oder es nicht wahrhaben wollten. Oder weil sie es lieber vergessen wollten. „Dass es einen solchen Zuspruch geben würde, habe ich nicht erwartet“, sagt Marlies Hübner.

Doch schon nach wenigen Stunden wurde der Hashtag mehrheitlich von Menschen benutzt, die sich über ihn lustig machten. Sie twitterten Witze über Vergewaltigung oder Bilder von gefesselten Frauen und beschimpften und bedrohten diejenigen, die den Hashtag ernsthaft benutzten. „Ihr zieht doch sexuelle Uebergriffe mit euren bescheuerten Hashtags ins Laecherliche. Vedammte Netz-‚Aktivisten‘“, schrieb eine Nutzerin. „Keiner würde dich rapen“, schrieb jemand einer Frau, die über ihre Erfahrungen berichtete. Sie solle ihr „Maul halten“.

Misha Anouk (@misharrrgh), der Partner von Marlies Hübner, legte deswegen eine Sammlung von ernst gemeinten Tweets an, ohne die Trolle. „Twitter-User_innen, die ihre Erfahrungen teilten, wurden extrem gemobbt und persönlich angegriffen, vor allem Männer, die Erfahrungen teilten“, sagt Misha Anouk. Dabei wisse er selbst von einer guten Bekannten, dass sie dank des Hashtags das erste Mal über ihre Erfahrung mit sexueller Gewalt gesprochen hatte.

Immer wieder dieselben Vorurteile

Die Trolle, die sich über „rape culture“ lustig machten, haben damit gezeigt, wie treffend der Begriff eben leider ist: Das Wort „rape culture“ bedeutet nicht, dass alles, was in unserer Kultur stattfindet, Vergewaltigung ist. Es bedeutet, dass unsere Kultur so beschaffen ist, dass sie sexualisierte Gewalt häufig bagatellisiert, verdeckt und ermöglicht. Viele Menschen schämen sich ohnehin, dass ihnen „so etwas“ passiert ist, oder sind sich nicht sicher, ob das Erlebte „schlimm genug“ war, um als Übergriff zu gelten.

Einer der häufigsten Vorwürfe gegen Menschen, die über sexualisierte Gewalt sprechen, ist, dass sie nur Aufmerksamkeit wollen. Der traurige Witz ist, dass über sexualisierte Gewalt zu sprechen zwar Aufmerksamkeit bringt, aber keine gute: Betroffene, die von eigenen Erfahrungen berichten, werden immer wieder mit denselben Vorurteilen konfrontiert und oft nicht ernst genommen.

Immer wieder werden ihnen dieselben Dinge vorgeworfen: Sie hätten die beschriebene Erfahrung nicht wirklich erlebt oder es sich erst im Nachhinein anders überlegt. Sie hätten den Täter zur Tat „gereizt“ durch Kleidung/Verhalten/Aufenthaltsort oder sich während der Tat nicht hinreichend gewehrt. Sie würden dem vermeintlichen Täter schaden wollen, indem sie seinen Ruf zerstören. Sie seien „zu hässlich“, um vergewaltigt zu werden oder würden Sex doch sonst auch mögen – oder eben nicht verstehen, was Sex ist. Außerdem würden Frauen doch eh immer „nein“ sagen, wenn sie „ja“ meinten.

All das ist auch bei #whyisaidnothing passiert. Leute fragten, ob die Initiatorin des Hashtags schon einen Vertrag bei Random House habe oder sprachen davon, dass der Hashtag jetzt auch vergewaltigt werden müsse.

Dabei ist die bloße Existenz von Tweets zum Thema sexualisierte Gewalt natürlich nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Schritt in der Debatte. Ähnlich wie bei anderen Twitter-Aktionen wie den Hashtags #aufschrei (über Alltagssexismus), #notjustsad (über Depressionen), #schauhin (über Alltagsrassismus) oder kürzlich #CampusRassismus (über Rassismus an der Uni) generiert sich hier Glaubwürdigkeit immer noch nicht über die Rede der einzelnen Person, sondern über die Masse der immer wieder ähnlichen Erlebnisse: Oft wird marginalisierten Gruppen erst geglaubt, wenn die Menge an Aussagen überwältigend ist – aber genau dafür ist Twitter ein gutes Instrument. Auch wenn die Reaktionen, die eine solche Aktion hervorruft, immer noch krass sind. „Der größte Vorteil und der größte Nachteil am Internet: Jeder darf rein“, twitterte Marlies Hübner am Sonntag.

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