Reaktionen auf neues NSU-Gutachten: „Es braucht vollständige Aufklärung“

Politiker wollen die Rolle eines Verfassungsschützers beim Kasseler NSU-Mord erneut prüfen. Auch an den Ermittlungen gibt es Kritik.

Porträt Andreas Temme

Hat er gelogen? Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme Foto: dpa

BERLIN taz | Der Fall Andreas Temme rückt noch mal in den Fokus der Justiz und Parlamente. Der Verfassungsschützer war beim NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 in Kassel am Tatort, einem Internetcafé. Ein neues Gutachten nährt erneut Zweifel, dass Temme von der Tat nichts mitbekam, wie dieser bis heute beteuert.

Ein Team der Londoner Goldsmith University, „Forensic Architecture“, hatte die Rolle Temmes in dem Mordfall neu untersucht. Es baute eigens das Internetcafé nach und rekonstruierte die Wahrnehmungen des Verfassungsschützers. Sein Resultat: Temme müsse sowohl die Schüsse auf Yozgat gehört als auch dessen Leiche gesehen haben.

„Wir prüfen momentan sehr intensiv zu beantragen, die Forscher als Sachverständige in den NSU-Prozess zu laden“, sagte Thomas Bliwier, Anwalt der Familie Yozgat. Ihr Bericht untermauere „vollständig unsere Sicht der Vorgänge“. „Wir haben immer gesagt, dass es nicht so gewesen sein kann, wie Herr Temme behauptet“, so Bliwier. Er verwies auf den „weiter dringenden Wunsch der Familie Yozgat, Herrn Temmes Rolle endlich vollständig aufzuklären“.

Der hessische Verfassungsschutz wollte sich zu dem Bericht nicht äußern. Die Rolle Temmes werde derzeit vor Gericht und in Untersuchungsausschüssen geklärt, sagte ein Sprecher. „In deren Hand liegt es nun, Fragen zu stellen.“

Das wird wohl passieren. Hermann Schaus, Obmann der Linken im hessischen NSU-Ausschuss, will das Gutachten zum Thema machen. „Wir sollten Polizeiexperten und Herrn Temme damit konfrontieren.“ Die Ergebnisse seien für ihn keine Überraschung, so Schaus. Schon die Ermittlungsakten legten sehr nahe, dass Temme die Schüsse gehört und die Leiche gesehen haben müsse.

„Er muss den Körper klar gesehen haben“

Temme wurde bereits zwei Mal im Ausschuss vernommen. Ein drittes Mal soll folgen. Bisher bleibt der Exverfassungsschützer dabei: Er habe von dem Mord nichts mitbekommen. Rein privat sei er im Internetcafé gewesen, habe auf einer Flirtseite gechattet.

Rechtsanwalt Thomas Bliwier

„Es kann nicht so gewesen sein, wie Temme behauptet“

Die Londoner Forscher hatte das Internetcafé im März im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ nachgebaut. Weiße Wände wurden dort hochgezogen, Computersitzplätze und der Verkaufstresen nachgestellt. Mit einem Waffenanalysten rekonstruierten die Forscher die Geräusche der beiden Schüsse auf Halit Yozgat, abgegeben von einer Ceska-83, und spielten diese in dem Tatortmodell ab.

Mit Kameras und Computertechnik bildeten sie zudem Temmes Weg von seinem damals genutzten PC bis zum Verlassen des Internetcafés nach. Als Grundlage nahmen sie Ermittlungsakten und ein Polizeivideo, in dem Temme den Ermittlern seinen Weg damals vorführte.

Projektleiterin Christina Varvia sagte, man habe diverse Varianten geprüft, wie es Temme möglich gewesen sein könnte, die Leiche Yozgats tatsächlich nicht zu erblicken. „Aber selbst in der Version, die Herr Temme der Polizei vorführte, muss er den Körper klar gesehen haben.“ Das Expertenteam wurde vom Projekt „NSU Tribunal“ beauftragt, das im Mai in Köln eine mehrtägige Tagung über die NSU-Verbrechen veranstaltet.

Druck kommt nun auch aus dem Bund. „Die Rolle Temmes muss dringend weiter aufgeklärt werden“, sagte Irene Mihalic, Grünen-Obfrau im NSU-Ausschuss des Bundestags. „Es ist mir ein Riesenmysterium, wie wenig problembewusst mit der Anwesenheit Temmes am Tatort umgegangen wurde.“ Dass er in dem Internetcafé war, sei „kein Zufall“ gewesen, ist Mihalic überzeugt.

„Gravierende Ermittlungsfehler“

Kritik gibt es aktuell auch an einem anderen NSU-Mordfall: dem an Mehmet Kubasik in Dortmund, nur zwei Tage vor der Tat in Kassel. Von teils „gravierenden Ermittlungsfehlern“ ist die Rede im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses Nordrhein-Westfalen, der am Montag veröffentlicht wurde. Den Ermittlern habe „die gebotene Offenheit in die Ermittlungsrichtung eines rechtsextremistisch motivierten Delikts gefehlt“.

Diese hatten die Mörder in der Drogenkriminalität vermutet. Dass dieser Ansatz, trotz ausbleibender Ergebnisse, über Jahre verfolgt wurde, sei „nicht nachzuvollziehen“, resümierten die Abgeordneten. Umso mehr, da Dortmund „als einer der Brennpunkte rechtsextremistischer Umtriebe über die Landesgrenzen hinaus bekannt war“. Zudem habe die Polizei Informationen nur „mangelhaft“ weitergegeben. Eine Übergabe des Falls an höhere Stellen „wollten diese gar verhindern“.

Auch an den Ermittlungen zu den NSU-Anschlägen in der Kölner Keupstraße und auf ein von Migranten betriebenes Geschäft in der Probsteigasse übten die Abgeordneten Kritik. Im letzteren Fall hätten die Ermittler gar eine Tat des iranischen Geheimdienstes in Betracht gezogen, nicht aber ein rechtsextremes Motiv. Das Vorgehen sei hier zum Teil „äußerst irritierend“ und „nicht nachvollziehbar“ gewesen.

Auch gebe es bis heute „erhebliche Zweifel“, dass Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt den Sprengsatz in der Probsteigasse platzierten. Dagegen sprächen Zeugenaussagen. Daher, so heißt es im Abschlussbericht, müsse zum NSU mindestens eine weitere, bisher nicht bekannte Person gehört haben.

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