Roman von Zadie Smith: Sie erlebt sich als eine Art Schatten

Körper, Herkunft, feine Unterschiede: Zadie Smiths neuer Roman „Swing Time“ handelt von einer schwarzen Tänzerin, die ihre Identität sucht.

Kinder tanzen in einer Schule in Afrika Ballett

Tanz stiftet Identität. Tracy/ Tracee findet sie nicht Foto: ap

Ein Mann tanzt, und die drei Schatten, die auf einer Wand hinter ihm zu sehen sind, bewegen sich mit ihm, synchron, 1 Minute und 52 Sekunden lang, bis sie es aufgeben. Fred Astaire tanzt weiter: weiße Handschuhe, weiß gepunktetes Sakko, Blackface. Mit ihm hat sie nicht gerechnet. Sie sitzt in der Royal Festival Hall, in der letzten Reihe, nachdem sie zuvor ziellos durch London gelaufen war, als in der Veranstaltung, die sie spontan besuchte – ein Gespräch mit einem Regisseur; auf dem Plakat gab es nichts, das auf Astaire hindeutete –, diese Szene gezeigt wurde, ohne Ankündigung. Sie kennt den Film, aus dem sie stammt, aus ihrer Kindheit. Sie bewegt ihre Füße, so, wie sie es früher einmal gelernt hatte, und a truth was being revealed to me: that I had always tried to attach myself to the light of other people, that I had never had any light of my own. I experienced myself as a kind of shadow.

Als eine Art Schatten, namenlos, und aus der Dunkelheit, die mindestens ein Gegenstand geworfen haben musste, sprechend, lässt Zadie Smith sie in ihrem fünften Roman erzählen, von dem, was diesem Ereignis, und auch dieser Erkenntnis, die – wie nur Erkenntnis – zu spät kam, vorausgegangen war. Sie bilden den Prolog. Er beginnt mit dem Ende: ihrer Entlassung. Am dritten Tag, zwei Tage hat die Erzählerin das Apartment nicht verlassen, sieht sie diesen Ausschnitt, Astaire in „Swing Time“, einem US-amerikanischen Filmmusical, das 1936 gedreht wurde und dem Roman seinen Namen gab. In sieben Kapiteln und einem Epilog schreibt sie – sie schreibt; es wird nicht gesagt, warum – abwechselnd zwei Geschichten, die sich immer wieder kreuzen, eine aus ihrer Kindheit und Jugend, die andere aus ihrer unmittelbaren Gegenwart, die von zwei Figuren dominiert werden, deren Schatten sie geworden war.

London-Kilburn, 1982. Samstag, 10 Uhr morgens. Our shade of brown was exactly the same – as if one piece of tan material had been cut to make us both; das war das Erste, das ihr an Tracy vor der Kirche, in der sie zusammen den Tanzunterricht besuchen werden, auffällt, the similarities and the differences. Gemeinsamkeiten: gleiche Größe, Sommersprossen an ähnlichen Stellen, in Sozialwohnungen lebend; sie ist auch mit ihrer Mutter gekommen. Unterschiede: Tracys Mutter ist weiß, arbeitslos und, von ihrer Tochter, die als ihr Accessoire beschrieben wird, abgesehen, ohne Ambitionen; die der Erzählerin: schwarz, aus Jamaika ursprünglich, eingeschrieben an der Open University, später eine MP. Ihr Vater: ein weißer Postbeamter, der nachmittags den Haushalt führt; Tracys: schwarz, auch aus Jamaika, abwesend, kriminell. Sie wohnen gegenüber.

Vom Balkon aus kann die Erzählerin in ihre Wohnung sehen, und so schematisch gestaltet Smith auch diese Freundschaft – die Familie der Erzählerin ist, gewissermaßen, das Spiegelbild von Tracys. Und wie ein Spiegel kein einfaches Abbild, sondern eine Vertauschung der Seiten zeigt, ist auch die Familie der Erzählerin für Tracy the wrong way round. Die Freundinnen selbst sind wie Gegensätze konzipiert worden. Als die Mutter der Erzählerin ihre Tochter trösten will – sie wird nicht weitertanzen; ihre Senkfüße sind ein Grund – vergleicht sie sie mit dem Sankofa, einem Vogelsymbol aus Westafrika, der, wie ein Engel der Geschichte, seinen Kopf umdreht, der Vergangenheit zugewandt. Sie bräuchte das Tanzen nicht. Anders als Tracy, the present is all she has, wüsste sie, woher sie komme und wohin sie gehen würde. „ All that matters in this world,“ she explained, „is what’s written down. But what happens with this“ – she gestured at my body – „that will never matter, not in this culture, not for these people.“

Tracy/Tracee ist nur eine Spur

In Tracys Zimmer hängen Michael Jackson, Prince, Madonna, in ihrem eigenen, und sie ist das, was ihre Mutter sagte, geworden, nur anders als erwartet, die Gesichter der Nicholas Brothers, Steptänzer, die sie aus alten Büchern herausgeschnitten hatte. Tracy, impulsiv, aggressiv, intrigant, beherrscht ihren Körper, von Anfang an, anders als die Erzählerin. Every movement was as sharp and precise as any child could hope to make it, her body could align itself with any time signature, no matter how intricate. Sie wird professionelle Tänzerin mit kleineren Engagements auch an Londons West End – in einer Show, in der sie keinen Namen besitzt und kaum etwas sagen darf –, die Erzählerin studiert Medien, träge, weiterhin, reflektiert, durchaus, aber passiv, prinzipiell, so wie früher. In Programmheften nennt sich Tracy Tracee, und diese Erinnerungen der Erzählerin sind exakt das: eine präzise Ablaufverfolgung: woher sie kamen und wohin sie gegangen waren. Trace, Spur; to trace, nachspüren; to trace somebody, jemanden aufspüren. Und der Spur von jemandem folgt man nur, wenn er nicht mehr da ist, ohne uns verlassen zu haben.

Dieser erste Teil des Romans, die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Nordwesten Londons, erzählt von einer Freundschaft, die von ihren Körpern definiert wird; ohne Tracy, sagt die Erzählerin, sei sie a body without a distinct outline. Seine formale Anordnung, Smith schreibt in kurzen, manchmal nur zwei Seiten langen Episoden, ahmt nicht nur Schrittfolgen des Steptanzes, den sie am Wochenende lernen, nach, sondern auch die Rasanz physiologischer Entwicklung. Der Fernseher formt ihre Körper: Vor ihm studieren sie Astaires Bewegungen – Tracy übt einmal eine Choreografie aus „Swing Time“, während die Erzählerin vor dem Videorekorder kniet, die Szene immer wieder zurückspulend; we were the first generation to have, in our own homes, the means to re- and forward-wind reality; an einer andere Stelle heißt es: Tracy went into standby mode, pausing herself like a video-tape –, sie versuchen wie Michael Jackson zu tanzen, als sie „Thriller“ zum ersten Mal sehen, oder wie der fiktive Popstar Aimee: [we] imitated her, whenever we had the privacy and opportunity.

Zadie Smith: „Swing Time“. Hamish Hamilton, London 2016, 464 Seiten, ab etwa 18 Euro

Der zweite Teil des Romans beginnt nach dem Studium der Erzählerin, als sie für einen Musiksender zu arbeiten beginnt und Aimee, eine Mischung aus Madonna und Kylie Minogue, kennenlernt. Sie wird ihre Personal Assistant. Später koordiniert sie den Bau einer von Aimee – und wieder; ihr Name ist wörtlich zu nehmen: das aim ist me – gegründeten Schule in Gambia, bis zu ihrer Entlassung.

Dieser Teil unterscheidet sich wesentlich von dem ersten. Smith ist, wie die Geschichten aus der Kindheit und Jugend der Erzählerin, aber auch ihre vorherigen Romane, insbesondere White Teeth und NW zeigen, eine aufmerksame Beobachterin, auch der feinen Unterschiede – also der Scham –, etwa als die Freundinnen zum Geburtstag einer Mitschülerin eingeladen waren und die eine in einem schwarzen Samtkleid, die andere in einem pinkfarbenem, strassbesetzt, erscheinen, während die übrigen Kinder, wie das Geburtstagskind selbst: aus der Mittelschicht, Jeans und Pullis anhatten.

Die Figuren bleiben abstrakt

Beobachtungen wie diese fehlen im zweiten Teil. An zwei Uhren lässt sich das demonstrieren: Im Haus des Mädchens, das seinen Geburtstag feiert, hängt eine Uhr von Swatch, as big as a human man, das als Symbol sozialer Differenz erscheint – an sich keineswegs subtil, aber in den Augen des Kindes, das die Erzählerin war, nur konsequent. In Gambia arbeitet sie mit einem Lehrer zusammen, dessen Armbanduhr stehengeblieben war – und die er weiterhin trägt, als stereotypes Zeichen dafür, dass an diesem Ort die Regeln der Zeit außer Kraft gesetzt worden seien, und der Armut.

Der zweite Teil besteht prinzipiell daraus: aus einer Sammlung von Klischees, behäbig aneinandergereiht, gewöhnlich erzählt, vor allem zu Celebrities und dem bereits im ersten Teil verschieden, an einigen Stellen differenziert, an anderen plakativ beschriebenen Gefühl grundsätzlicher Unzugehörigkeit, das die Erzählerin, die in Gambia als white bezeichnet wird, positiv gewendet im Tänzer verkörpert sieht: to me a dancer was a man from nowhere, without parents or siblings, with­out a nation or people, without obligation of any kind. Es bleibt bei dieser Abstraktion. Weder die Erzählerin noch Tracy oder Aimee können ihr entsprechen. Und auch davon erzählt „Swing Time“: von den signifikanten Bindungen des Körpers an Herkunft und Familie, im ersten Teil smart und direkt, im zweiten zäh, ziellos.

Zwei Männer aus einfachen Verhältnissen wollen die Grünen als Spitzenkandidaten in den Wahlkampf führen. Zwei Männer, die so gar nicht zur bürgerlichen Bio-Bohème zu passen scheinen. Das Doppelporträt von Anton Hofreiter und Cem Özdemir lesen Sie in der taz.am wochenende vom 14./15. Januar 2016. Außerdem: Abschied von den Obamas, der skandalfreisten US-Präsidentenfamilie aller Zeiten. Und: endlich Schnee! Unsere Chance, alles über Schnee zu sagen, was es zu sagen gibt. Das alles und noch viel mehr – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Die Erzählerin sagt, in Filmmusicals sei the story (…) the price you paid for the rhythm; im ersten Teil von „Swing Time“ gibt es beides, eine Geschichte und Rhythmus, im zweiten könnte fast gesagt werden: weder das eine noch das andere.

Der Autor lebt als Schriftsteller in Berlin. Sein Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ erschien 2016 im Fischer Verlag.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.