Romanzyklus aus Italien erstmals deutsch: Die Last des guten Namens

Andrea Giovenes „Autobiographie des Giuliano di Sansevero“ erscheint erstmals auf Deutsch. Band eins zeigt eine verfallende Adelsfamilie in Neapel.

Palazzi auf einem Hügel

Alte Palazzi in Neapel Foto: Imago

Über die Bedeutung des ersten Satzes in einem Roman ist mit gutem Grund viel gesagt worden. Der Anfang setzt den Ton für das Kommende, stimmt darauf ein oder sorgt dafür, dass man die Lektüre danach nicht mehr fortsetzen möchte. Beim italienischen Schriftsteller Andrea Giovene beginnt dessen Romanzyklus „Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero“ im ersten Band, „Ein junger Mann aus Neapel“, betont nüchtern: „Bei bestimmten alten Familien werden Salons wenig genutzt.“

Darin steckt in aller Knappheit eine Menge dessen, was auf den nächsten 300 Seiten geschehen wird. Andrea Giovene erzählt mit der Stimme des Giuliano di Sansevero, seinem Alter Ego, von einer Kindheit im Hause des Geschlechts di Sansevero. In einem Salon des neapolitanischen Familiensitzes, in dem dieser Giuliano in jungen Jahren viel mit seiner kleinen Schwester Checchina spielt, hängt an einer Wand ein immenser Stammbaum, der den Jungen fasziniert. Außer den beiden Geschwistern hält sich von den lebenden Verwandten sonst kaum jemand in den Räumlichkeiten auf.

Giovene selbst stammt aus einer herzöglichen Familie, deren Vorfahren sich bis ins 11. Jahrhundert nachweisen lassen. Was er in dieser „Autobiographie“ erzählt, ist vom eigenen Leben inspiriert. Der ruhig sachliche Ton, den er im ersten Satz wählt, kennzeichnet seine Erinnerungen und Betrachtungen im weiteren Verlauf, selbst da, wo von Tragödien persönlicher oder wirtschaftlicher Art die Rede ist. Oft, besonders wenn er auch charakterliche Schwächen der Verwandtschaft, von denen es einige zu geben scheint, in den Blick nimmt, kostet er diese Dinge mit feiner, gelegentlich boshafter Ironie aus.

Der heranwachsende Giuliano wird mit neun Jahren in ein Kloster gesteckt und lebt fortan getrennt vom Rest der Verwandten, vor allem ohne seine Spielgefährtin Checchina. Waren es zuvor die Eigenheiten seiner Familie, die seine Erinnerungen beherrschen, verlegt der schüchterne Junge seine Beobachtungen jetzt auf seine Leidensgenossen und ihre monastischen Erzieher. Deren fragwürdige pädagogische Konzepte schildert Giovene mit derselben Gleichmut wie die sich ankündigenden Zerwürfnisse daheim.

Andrea Giovene: „Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero“. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Galiani Verlag, Berlin 2022. Bisher erschienen: „Ein junger Mann aus Neapel“, 304 Seiten, „Die Jahre zwischen Gut und Böse“, 352 Seiten, je 26 Euro

In seinen introspektiven Tonfall muss man womöglich ein wenig hineinfinden, die Geduld lohnt allerdings. Denn Andrea Giovenes psychologisches Sensorium und seine Gnadenlosigkeit beim genauen Betrachten, sei es anderer oder seiner selbst, hat etwas schmerzlich Aufrichtiges, das einen rasch vergessen lässt, in was für einem privilegierten Umfeld dieser Giuliano aufwächst. Zudem blickt Giovene, je älter sein juveniler Protagonist wird, mehr und mehr über die familiären Grenzen hinaus und flicht nebenbei die Zeitgeschichte in seine Handlung mit ein.

Angewiderte Ernüchterung

Dem aufkommenden Faschismus widmet Giovene große Aufmerksamkeit, verschweigt weder die Nähe einzelner Verwandter zu dieser „Bewegung“ noch seine anfängliche eigene Faszination, auch wenn diese distanziert-theo­retisch bleibt und sehr früh einer angewiderten Ernüchterung Platz macht.

Ein weiterer interessanter Aspekt dieses autofiktionalen Lebensberichts ist der geringe Dünkel, den dieser Hochwohlgeborene an den Tag legt. Der zurückgezogen in seinem abgelegenen Zimmer vor sich hin Studierende hat im Haus den vertrautesten Umgang mit dem Hauspersonal, und sobald er in Neapel die Schule besucht, gehören zu seinen Freunden zwei Klassenstrolche, die alles andere als ein standesgemäßer Umgang für ihn sind. Seiner Schüchternheit gegenüber den Mädchen seines Alters helfen sie sogar nach und vermitteln ihn heimlich an Prostituierte.

Ins Deutsche sind die im Original zwischen 1966 und 1970 veröffentlichten und international beachteten Romane seinerzeit nicht übertragen worden. Diesen Missstand hat der Übersetzer Moshe Kahn jetzt behoben. Zwei Bände sind schon erschienen, der Rest soll bis zum Herbst folgen. Wer hätte gedacht, dass einem ein Adliger so nah kommen könnte?

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