Runder Tisch Stadt- und Mieteninis Berlin: „Der Koalitionsvertrag reicht nicht“

Rot-Rot-Grün will eine Wende in der Wohnungspolitik. Die Initiativen wollen mitentscheiden. Ein Gespräch über eine Neuerzählung der Stadt.

Demonstranten bei einer Miet-Demo

Nicht nur Partner sein, sondern mitentscheiden Foto: dpa

taz: Rot-Rot-Grün ist angetreten, eine Wende in der Wohnungspolitik herbeizuführen. Außerdem hat die SPD das Bauressort an die Linkspartei abgegeben. Was heißt das für Sie als stadt- und wohnungspolitische Initiativen?

Christian Schöningh: Man muss Michael Müller zugutehalten, dass er als Stadtentwicklungssenator, im Gegensatz zu seiner Vorgängerin, Wohnungs- und Mietenpolitik ernst genommen hat. Dann hat er sich angesichts der Aufgaben, die vor ihm standen, gefragt: Wer sind meine Partner? Das waren aber immer nur die Investoren. Initiativen, die die Dinge mal auch anders machen wollten, gehörten nie dazu. Da hoffen wir, dass das mit der neuen Senatorin anders beantwortet wird.

Sandy Kaltenborn: Dass Herr Müller die Wohnungspolitik plötzlich ernst nahm, war nicht seine eigene Erkenntnis. Er hat auf den starken außerparlamentarischen Druck reagiert.

Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) den Gentrifizierungskritiker Andrej Holm als Staatssekretär für Wohnen nominiert hat?

Daniela Brahm: Ich war überrascht. Ich habe mich aber sehr gefreut. Für mich war die Entscheidung mit der Hoffnung verbunden, dass es ernst gemeint ist mit einem Wechsel in der Wohnungspolitik.

Sandy Kaltenborn: Ich war nicht verwundert, weil wir das vorher gewusst hatten. Dass man versucht, gestaltend in die Stadtentwicklungspolitik einzugreifen, haben wir begrüßt. Deshalb haben wir Andrej auch geraten, den Job anzunehmen.

Holm selbst hat gesagt, dass er am Anfang eher skeptisch war. Gab es da einen Rückkopplungsprozess mit den Initiativen?

55, ist freischaffender Architekt, Mitglied bei den Initiativen Stadt Neu Denken und Haus der Statistik und mit etlichen Projekten verbunden, die zeigen, dass einiges auch anders geht. Aktuell ist er Mitinitiator zweier neu gegründeter Genossenschaften, die erforderliche Kompetenzen für die Umsetzung von Planungs- und Bauprozessen gemeinwohl­orientiert organisieren.www.zusammenarbeiter.de

Enrico Schönberg: Ich wusste es nicht. Ich war wie Daniela sehr überrascht. Aber es war auch interessant, da war plötzlich eine ganz andere Denkfigur aufgemacht: Ein Exponierter aus den sozialen Bewegungen geht in den Senat. Ob er da Erfolg gehabt hätte? Da gab es zu wenig Zeit, um das zu beurteilen.

Sandy Kaltenborn: Wir dürfen nicht vergessen, dass das, was mietenpolitisch im Koalitionsvertrag steht, in den Koalitionsverhandlungen bis zuletzt auf der Kippe gestanden hatte. In der Facharbeitsgruppe, die das verhandelt hat, war von der SPD alles blockiert worden, was wir als fortschrittlich empfunden haben. Erst in der Schlussrunde – und nach einem kleinen Putsch in der SPD – ist das durchgekommen. Das war die Grundlage, auf der Andrej beschlossen hat, in die Verantwortung zu gehen. Es war also auch eine inhaltliche Entscheidung.

Christian Schöningh: Ich habe mich gefreut. Über den Koalitionsvertrag und darüber, dass das auch personell unterfüttert wurde. Aus Initiativenperspektive reicht das geschriebene Wort nicht aus.

Gab es einen Moment, in dem Sie gedacht haben, dass Andrej Holm auch scheitern könnte? Er hatte ja keinerlei Verwaltungserfahrung.

Sandy Kaltenborn: Hat denn jemand mal danach gefragt, ob Ramona Pop Verwaltungserfahrung hat? Andrejs Stärke ist, dass er zu allen wichtigen mietenpolitischen Lagen unabhängige Analysen erarbeitet hat. Er konnte hier auf Augenhöhe mit den Verwaltungsmitarbeitern arbeiten.

Daniela Brahm: Er hätte es ja nicht allein gemacht. Er hätte Katrin Lompscher gehabt, die als Senatorin eine bestimmte Form von Wohnungspolitik umsetzen will. Das muss man sich klar machen, und das gilt auch für einen Nachfolger von Andrej Holm.

Enrico Schönberg: Ich sehe das etwas anders. Der Koalitionsvertrag ist trotz allem nicht ausreichend, um die soziale Frage zu beantworten. Ja, es sind Vereinbarungen drin, wo man in einzelnen Punkten Hoffnung schöpfen kann. Aber zu sagen, der Koalitionsvertrag sei schon der neue Aufbruch, wäre falsch. Es ist eine Veränderung. Und eine Verbesserung im Vergleich zu dem, was vorher gelaufen ist. Angesichts des Kapitals, das in die Stadt drückt, sind die Mittel und Aktivitäten, die auf Senats- und Bezirksebene bisher vorhanden sind, nicht ausreichend.

48, ist Kommunikationsdesigner (www.image-shift.net) und Mitbegründer der Mietergemeinschaft Kotti & Co, die seit 2011 für eine nachhaltige soziale Lösung im Bestand des sozialen Wohnungsbaus kämpft. Vor Kurzem veröffentlichte er gemeinsam mit Andrej Holm und Ulrike Hamann die Publikation „Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau” (Berliner Hefte 2016). Kotti & Co war auch Mitinitiatorin des Mietenvolksentscheids.

Wie würde ein radikaler Kurswechsel in der Mietenpolitik, wie Sie ihn fordern, aussehen?

Enrico Schönberg: Das ist zum einen der Wille, dass die Kommune zum marktbeeinflussenden Faktor wird. Wenn man immer Wien zum Vorbild nimmt, geht es darum, ob man als Kommune in der Lage ist, den Markt so weit einzuschränken, dass man eine soziale Wohnraumversorgung hinbekommt. Das ist im Koalitionsvertrag so noch nicht gesagt worden. Es geht um die Aufstockung der Wohnungsbestände der sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Es geht um Neubau, der immer noch zu teuer ist. Eine klare Ansage aber macht der Koalitionsvertrag nicht.

Sandy Kaltenborn: Die Erhöhung der Grunderwerbsteuer wäre so ein Punkt gewesen.

… um die Spekulation einzudämmen.

Sandy Kaltenborn: Genau. Und die Neuausrichtung der kommunalen Gesellschaften wird eine Herausforderung sein. Diese bedarf einer Anstrengung, die weit über die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hinausgeht. Da sehe ich noch nicht, dass die SPD, aber auch die ganze Koalition dahintersteht. Wir brauchen die stadtpolitische Polarisierung zugunsten der Mieter, für die Andrej stand.

Gerade polarisieren eher die Wohnungsbaugesellschaften. Obwohl im Koalitionsvertrag steht, dass die Miete nicht mehr als zwei Prozent pro Jahr steigen darf, haben sie noch einmal kräftig zugelangt und 21.751 Mieterhöhungen, teilweise bis zu 14 Prozent, verschickt. Eine Provokation?

Sandy Kaltenborn: Es ist nicht klar, ob diese Mieterhöhungen als politische Provokation gegen die Senatorin und die Koalitionsvereinbarung gedacht waren oder nicht. Faktisch sind sie es aber, selbst wenn es ein rein technischer Vorgang gewesen sein sollte. Klar ist, dass die kommunalen Wohnungsunternehmen sich nun öffentlich erklären müssen. Sie müssen einen Weg finden, die Erhöhungen umgehend zurückzunehmen. Auch eine Entschuldigung wäre angemessen.

50, ist zusammen mit Les Schliesser Initiatorin von ExRotaprint im Wedding, eines gemeinwohlorientierten Projekts, das einen offenen Ort für alle sozialen Gruppen schafft. Das 10.000 qm große Gelände ist der Immobilienspekulation entzogen. Brahm ist Teil der Initiative Stadt Neudenken und aktiv am runden Tisch zur Neuausrichtung der Liegenschaftspolitik.www.exrotaprint.de

Daniela Brahm: Daran sieht man, welche Haltung die Leitung der Wohnungsbaugesellschaften verinnerlicht hat. Die Renditeerwartungen sind an dem nach oben laufenden Markt orientiert, dabei sollten gerade die Wohnungsbaugesellschaften mietpreisdämpfend wirken. Die Leitungsebene ist zu einer Zeit gekommen, in der es einen klaren neoliberalen Auftrag gab. Das wird zäh, hier umzusteuern.

Der Senat selbst setzt gerade andere Signale. Im sozialen Wohnungsbau wurden die turnusgemäßen Mieterhöhungen ausgesetzt.

Sandy Kaltenborn: Im sozialen Wohnungsbau bauen die Dinge, die jetzt beschlossen sind, auf unseren Kämpfen der vergangenen fünf Jahre auf. Sie verschaffen vielen Mietern etwas Luft. Das strukturelle Problem der Förderverträge aus den siebziger und achtziger Jahren ist aber nicht gelöst. Eine richtige Antwort wäre hier eine Politik der Rekommunalisierung. Aber natürlich ist es nicht einfach, 50.000 oder 100.000 Wohnungen zurückzukaufen.

Im Koalitionsvertrag gibt es für den sozialen Wohnungsbau stattdessen den Vorschlag einer sozialen Richtsatzmiete. Was muss man sich darunter vorstellen?

Sandy Kaltenborn: Das ist eine politische Festsetzung einer Mietobergrenze. Da gibt es verschiedene Modelle, wie etwa die Kopplung an Einkommen und den Mietspiegel. Das wird derzeit in einer Expertenkommission diskutiert und soll in den nächsten Monaten entschieden werden. Es ist Zeit, dass sich auch die Eigentümer an den Kosten beteiligen und nicht nur das Land Berlin und die Mieterinnen und Mieter.

Mit Andrej Holm hätten Sie als Initiativen einen direkten Ansprechpartner gehabt. Wie weit wäre denn dieses Verhältnis gegangen? Holm selbst hat am Tag seines Rücktritts gesagt, dass er ein imperatives Mandat gehabt hätte. Er hätte keine Entscheidungen getroffen, ohne das mit den Initiativen rückzukoppeln. Welche Verabredungen gab es da?

Daniela Brahm: Also mit mir gab es keine.

35, ist Berater im Mietshäusersyndikat, einem Zusammenschluss von über 115 selbst verwalteten Hausprojekten. Er unterstützte die Besetzung der Seniorenbegegnungsstätte Stille Straße und die Initiative Stadt Neudenken für eine neue Liegenschaftspolitik. Er ist auch Teil der Initiative „Stadt von Unten“, welche jüngst die Privatisierung des Dragoner-Areals verhinderte. www.stadtvonunten.de/ www.syndikat.org/

Christian Schöningh: Mit mir persönlich auch nicht, und auch nicht für die beiden Initiativen, für die ich hier sitze.

Sandy Kaltenborn: Wenn man jahrelang zusammenarbeitet, muss man Andrej nicht erklären, was das Problem beim sozialen Wohnungsbau ist. Wenn er das so sagt, hat er damit eine produktive Abhängigkeit und eine, ich sage jetzt nicht Komplizenschaft, aber eine Parteilichkeit signalisieren wollen.

Enrico Schönberg: Komplizenschaft ist gar nicht so falsch.

Sandy Kaltenborn: Und dann fragt man sich auf der anderen Seite: Wie soll das denn gehen? Er wäre als Staatssekretär in einer Position gewesen, wo er auch mit Investoren und den Wohnungsbaugesellschaften verhandeln sollte. Muss er da nicht eher ausgleichen? Und da sind wir wieder bei dem, was wir heute brauchen, weil der Karren ziemlich tief im Dreck steckt. Welches Berlin wollen wir in 2030? Es wird viel über die soziale Mischung geredet, aber die geht gerade flöten. Die Kieze verändern sich massiv. Die Armen und die Mittelschicht ziehen weg. Ich will das Alte gar nicht romantisieren und auch nicht bestreiten, dass es Veränderungen braucht. Aber es geht darum, wie man diese Veränderungen auch mit staatlichen Eingriffen sozial gestaltet.

Sie haben die Erwartungen formuliert, die Sie an Andrej Holm hatten. Aber es gibt natürlich auch Erwartungen an den Senat. Zum Beispiel möglichst viel Wohnraum zu schaffen.

Enrico Schönberg: Vielleicht ist das auch die Stelle, wo wir mal sagen müssen, dass wir als stadt- und mietenpolitische Ini­tiativen nicht generell gegen Neubau sind. Entscheidend ist aber, was am Ende dabei rauskommt. Wie hoch sind die Mieten? Wer fährt den Profit ein? Darum geht es.

Daniela Brahm: Eine bestimmte Anzahl an Wohnungen zu produzieren ist das eine. Aber wir müssen auch über Baukosten reden. Es wird derzeit sehr teuer gebaut. Trotzdem soll es sozialer Wohnungsbau werden. Aber es gibt das übliche Interesse von einer riesigen Lobby, die teuer bauen will, damit die Gewinne stimmen.

Enrico Schönberg: Es rächt sich jetzt, dass die Verwaltung und auch die kommunalen Gesellschaften jahrelang den Innovationen, die von außerhalb entwickelt wurden, eher ablehnend gegenüberstanden.

Sandy Kaltenborn: Neubau über alles war die große Parole seit 2011. Es war der große Erfolg der Mieterinitiativen, dass in der Politik angekommen ist, dass auch im Bestand etwas gemacht werden muss. Aber klar: Es ist eine Mammutaufgabe, und wir stehen jetzt vor der Aufgabe, welche neuen Formate es auch in der Kommunikation zwischen Politik und Zivilgesellschaft gibt. Denn auch das bedeutet ja „gutes Regieren“, wie es sich der Senat vorgenommen hat.

Was ist für Sie sonst noch gutes Regieren?

Christian Schöningh: Nicht nur Kommunikation. Wir wollen auch mitentscheiden. Und wir möchten beim Thema Neubau auch als Partner gesehen werden. Das sagt jetzt wieder so ein Projektemacher, ich weiß.

Enrico Schönberg (lacht): Ich hör dir trotzdem zu.

Protest von Kotti & Co

Klare Ansage von Kotti & Co Foto: dpa

Daniela Brahm: Aber diesen Schulterschluss sehen wir noch nicht. Die meisten Wohnungsbaugesellschaften sind abgeschottete Schiffe. Eine Reaktion auf neue Lebensentwürfe ist nicht zu sehen, die Grundrisse entsprechen nicht der sozialen Vielfalt in Berlin. Derzeit werden bevorzugt Single-Wohnungen oder gleich Studentenwohnungen gebaut. Was in der alternativen Projektentwicklerszene erprobt wird, muss in größere Maßstäbe überführt werden.

Durch den Druck des Mietenvolksentscheids wurde das Wohnraumversorgungsgesetz verabschiedet. Das sieht auch die Kontrolle der Gesellschaften durch eine Anstalt öffentlichen Rechts vor. Was sind Ihre Erwartungen?

Sandy Kaltenborn: Wichtig ist, dass die Berlinerinnen und Berliner merken, dass das eigentlich ihre Gesellschaften sind. Dass sie nicht der SPD gehören. Wir haben das Fenster mit dem Mietenvolksentscheid erst einmal geöffnet. Damit wollten wir mehr Demokratisierung und Transparenz in den Laden reinkriegen. Bis dahin kamen die Geschäftsführer alle halbe Jahre in den Bauausschuss und haben ein paar Papiere vorgelegt. Den Rest haben sie mit den SPD-Bausenatoren abgekaspert. Es gab also so gut wie keine parlamentarische Kontrolle. Das ist ein großer Fortschritt, dass das jetzt möglich ist. Der Koalition fehlt noch immer eine Erzählung, wo das Land hinmöchte. Arm, aber sexy ist lange überholt. Was im Koalitionsvertrag steht, ist ein Anfang. Aber nach wie vor ist es wichtig, dass sich die Öffentlichkeit einmischt. Das gilt auch für alternative Projekte. Da wünschen wir uns deutlich mehr Kooperation mit den Wohnungsbaugesellschaften, zum Beispiel auf dem Dragoner-Areal oder am Kotti.

Enrico Schönberg: Oft ist es so, dass die Wohnungsbaugesellschaften zu den Initiativen wie dem Mietshäusersyndikat sagen: Das können wir doch selbst, wozu brauchen wir euch da? Andererseits gab es auch schon den Willen, mit uns als gemeinwohlorientierten Partnern zusammenzuarbeiten. Positiv ist, dass die Gesellschaften ihren Gewinn nicht mehr ans Land abführen müssen, sondern für den Neubau einsetzen können.

Wie könnte denn eine Erzählung aussehen, die die Gesellschaften auf Gemeinwohlorientierung verpflichtet. Gibt es da auch eine griffige Formel?

Christian Schöningh: Mitbestimmung.

Enrico Schönberg: Sagen haben, nicht Mitbestimmung. Man muss was zu sagen haben.

„Was“ zu sagen haben? Oder „das Sagen“ haben?

Sandy Kaltenborn

„Bis zuletzt stand der Koalitionsvertrag auf der Kippe“

Enrico Schönberg: In einer Mieterstadt wie Berlin, in der 85 Prozent der Bevölkerung zur Miete wohnen, könnte man schon fragen, ob es nicht darum gehen soll, das Sagen zu haben. Im Moment ist ganz klar, dass wir Mieter nichts zu sagen haben.

Sandy Kaltenborn: Ich glaube, es ist nicht unser Job, diese Erzählung in eine knackige Parole zu packen. Wenn man sich die Präambel zum Koalitionsvertrag anschaut oder wenn man sich manchmal Herrn Müller anhört, geht es immer viel um den sozialen Zusammenhalt. Natürlich muss eine solche Erzählung was mit dem sozialen Zusammenhalt in der Stadt zu tun haben. Eine Erzählung ist aber keine Floskel oder Pressemitteilung, sondern eine Praxis.

Vorbild vieler stadtpolitischer Initiativen ist Wien. Dort hatte die Stadt bereits nach dem Ersten Weltkrieg mit einem kommunalen und sozialen Wohnbauprogramm begonnen. Noch heute lebt etwa jeder vierte Wiener in einem Gemeindebau. Die Stadt Wien besitzt rund 220.000 Gemeindewohnungen, dazu kommen noch zahlreiche Genossenschaftswohnungen.

In Berlin haben die sechs landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften Degewo, Gesobau, Gewobag, WBM, Stadt und Land und Howoge 300.000 der insgesamt 1,9 Millionen Wohnungen. Durch Neubau sollen in fünf Jahren 30.000 Wohnungen dazukommen. Langfristig strebt Rot-Rot-Grün 400.000 landeseigene Wohnungen an.

Die Gesellschaften sollen über eine Anstalt öffentlichen Rechts kontrolliert werden. So steht es im Wohnraumfördergesetz, das auf Druck des Mietenvolksentscheids zustande gekommen ist. 60 Prozent der frei werdenden landeseigenen Wohnungen sollen in Zukunft an Wohnungssuchende mit Wohnberechtigungsschein vergeben werden.

Ein großes Problem ist der soziale Wohnungsbau. Viele Förderverträge laufen aus, die Mieten können drastisch steigen. Der Grund: Die privaten Investoren haben in der Vergangenheit teuer gebaut, um mehr Subventionen zu bekommen. Bislang hat jeder Senat das Problem vor sich her geschoben. Rot-Rot-Grün und die Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) wollen es nun angehen. (wera)

Daniela Brahm: Immerhin kommt im Koalitionsvertrag ein neuer Akteur zu Sprache: die gemeinwohlorientierten Investoren. Das ist total interessant. Aber wer ist das? Ist das die Caritas? Oder sind es auch Gruppen, die wir vertreten? Versorgung mit Raum in dieser Stadt gemeinwohlorientiert zu denken ist extrem wichtig. Das kann nicht nur ein staatlicher Auftrag sein. Warum sollen nicht auch private, gemeinwohlorientierte Akteure dabei sein? Die Wohnungsbaugesellschaften können unser Problem nicht allein lösen.

Mit der Nominierung von Andrej Holm hat Katrin Lompscher ein starkes Signal an die Initiativen gegeben. Wie viel Beinfreiheit gestehen Sie der Bausenatorin in Zukunft zu?

Enrico Schönberg: Erst mal sind ihr die Beine weggekloppt worden, um es mal klar zu sagen.

Ab welchem Punkt würden Sie denn sagen: Unser Protest richtet sich nicht nur gegen die, die einen radikalen Wechsel in der Wohnungspolitik nicht wollen, sondern auch gegen Rot-Rot-Grün?

Sandy Kaltenborn: Das Verhältnis von uns zu Katrin Lompscher und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung muss sich in den nächsten Wochen und Monaten erst einmal entwickeln. Andererseits ist Lompscher für uns keine Unbekannte. Wir kennen sie als Person, wir kennen ihre inhaltlichen Positionen. Die teilen wir in vielen Punkten, in manchen auch nicht. Wir haben seit vielen Jahren mit ihr gut zusammengearbeitet. Deswegen ist da auch ein Vertrauensvorschuss da.

Daniela Brahm: Entscheidend wird sein, wie die Zusammenarbeit der Senatsverwaltung mit den Initiativen läuft. Ich sehe auch die Gefahr, dass manche Initiativen einen engeren Draht zu ihr haben, andere weniger. Es muss eine Struktur gefunden werden, die einen möglichst breiten Austausch möglich macht. Da steht zum Beispiel im Koalitionsvertrag, dass die Qualifizierung des runden Tischs zur Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik angestrebt wird. Wir müssen klären, was wir erwarten, welchen Einfluss die Initiativen tatsächlich haben werden, und dass die Mitwirkung transparent ist.

Ist denn, gerade wenn es um Liegenschaftspolitik geht, auch Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen ein Partner für Sie?

Sandy Kaltenborn: Er versteht was von Wohnungswirtschaft. Er ist nicht der klassische neoliberale SPDler. Dass der Senat die Schuldentilgung zurückgefahren hat und mehr investieren will, ist eine richtige Entscheidung. Auf jeden Fall ist er von allen bisher der beste.

Enrico Schönberg: Das Problem ist die Schwarze Null. Was passiert, wenn die Schuldenbremse greift?

Christian Schöningh: Und wie wollen wir verhindern, dass die Schuldenbremse zur Investitionsbremse wird?

Daniela Brahm: Lange Zeit bestand Liegenschaftspolitik darin, mit dem Verkauf von Grundstücken Kasse zu machen. Damit ist die Dominanz der Finanzverwaltung erst entstanden. Die Stadtentwicklungspolitiker konnten gar nichts mehr machen, weil alles von Finanzen dominiert wurde. Hat sich das geändert? Wir müssen hinsehen und reagieren, auch darauf, wie die neue Kooperation zwischen Stadtentwicklung und Finanzen läuft.

Sandy Kaltenborn: Die Ernennung von Jan Kuhnert als Vorstandsmitglied für die Anstalt öffentlichen Rechts

… Kuhnert war Mitinitiator des Mietenvolksentscheids…

Sandy Kaltenborn: … ja, und das war ein sehr positives Signal von Kollatz-Ahnen, eines Experten zu holen, der aus den Mieterinitiativen kommt. Das ist eine richtige, mutige und lobenswerte Entscheidung.

Christian Schöningh: Sie haben mich ja unter anderem als Vertreter der Initiative „Haus der Statistik“ eingeladen. In den zwei Jahren, die wir daran arbeiten, hat uns der Finanzsenator aufgefordert, ein Angebot einzureichen. Das haben wir gemacht. Aber das war kein Angebot, das Grundstück zu kaufen, sondern mit dem Finanzsenator zusammen ein gutes Projekt zu machen. Kollatz-Ahnen traue ich zu, ein solches Angebot anzunehmen. Üblich ist eher eine Einstellung wie: Nee, wir lassen uns doch jetzt von denen nicht zeigen, wie es anders geht.

Auch der Bund ist verantwortlich für das Wohnen in Berlin. Derzeit verhandelt das Land über den Verkauf von 4.500 bundeseigenen Wohnungen an Berlin. Dem Bund gehört auch das Dragoner-Areal in Kreuzberg und das Haus der Statistik am Alexanderplatz. Beides will der Senat übernehmen. Dafür engagieren sich auch stadtpolitische Initiativen.

Auch beim Neubau haben gemeinwohlorientierte Initiativen Erfahrungen gesammelt. So konnte etwa das Mietshäusersyndikat bei einem Neubau in Prenzlauer Berg die Baukosten auf 1.000 Euro pro Quadratmeter senken. Die Wohnungsbaugesellschaften sollen nach Angaben des Senats nicht höher als für 2.000 Euro den Quadratmeter bauen.

Wie das Mietshäusersyndikat wollen künftig auch andere Initiativen stärker in der Stadtentwicklungspolitik mitmischen. Wichtig ist, dass sie gemeinwohlorientiert sind, also keine eigenen Profitinteressen haben.

Wer als neuer Staatssekretär den Dialog zwischen Initiativen und Senat suchen soll, ist noch offen. Der bisherige Staatssekretär Andrej Holm war am 16. Januar zurückgetreten. Dem Gentrifizierungskritiker war vorgeworfen worden, falsche Angaben über seine Stasi-Tätigkeit gemacht zu haben, als er 2005 eine Stelle an der Humboldt-Uni antrat. Seit ihm die HU gekündigt hat, halten Studierende das Institut für Sozialwissenschaften besetzt, an dem Holm lehrte. (wera)

Daniela Brahm: Das ist das, was ich unter Kooperation verstehe.

Enrico Schönberg: Wir haben auch gute Erfahrungen gemacht. Die Nichtprivatisierung des Dragoner-Areals ist auch ihm zu verdanken. Da gab es den Druck der Initiativen, und er hat am Ende was umgesetzt.

Sie haben vorhin gesagt, es gebe noch kein richtiges Wir bei den Initiativen, die ja auch sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Ist das auch eine Herausforderung? Da Strukturen zu schaffen, um noch stärker mit einer Stimme zu sprechen?

Daniela Brahm: Die Initiativen sind in den letzten Jahren näher aneinandergerückt.

Sandy Kaltenborn: Dazu gehört auch, immer wieder klar zu machen: Die wichtigsten Impulse für die Stadtentwicklung der vergangenen Jahre …

Enrico Schönberg: … kamen von uns.

Sandy Kaltenborn: … kamen aus der Zivilgesellschaft. Das ist angesichts der Unterschiedlichkeit ein großer Erfolg. Dass Initiativen wie Ex-Rotaprint nun mit Kotti & Co. zusammenarbeiten, ist organisch gewachsen. Welche weiteren Schritte sich daraus ergeben, werden wir sehen. Ich sehe da eine Menge Potenzial.

Haben Sie ein Beispiel?

Sandy Kaltenborn: Alles, was über die Privaten unter dem Stichwort „Gutes Kapital“ diskutiert wird, war uns zunächst fremd. Aber da hat sich über die Zusammenarbeit unsere Meinung sehr ausdifferenziert. Das ist unglaublich spannend. Es gibt das Vertrauen, dass wir alle Berlin mitgestalten wollen. Und das macht auch die Motivation aus. Man trifft tolle, spannende Menschen, die unglaublich viel Engagement und Freizeit reinstecken und über ihre Grenzen hinauswachsen. Man darf ja nicht vergessen, dass die meisten von uns ehrenamtlich arbeiten.

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