Selbstreflexive Kunst in Stade: Sisyphos als Künstler

In der aktuellen Ausstellung „Ich“ im Kunsthaus Stade überzeugen vor allem die filmischen „Norddeutschen Selbstbildnisse aus 100 Jahren“.

Halb surreal, halb mystisch: „Vasenekstase“ von Anna & Bernhard Blume. Foto: Abb.: Galerie Buchmann, Berlin © VG Bild-Kunst

STADE taz | Die Worpsweder Maler sind gut vertreten. Emil Nolde ist dabei sowie der spätere Rostocker Ernst Barlach oder Richard Oelze, der bei Hameln lebte. Paula Modersohn-Becker ist zu betrachten und Fritz Overbeck, der zuletzt bei Vegesack wohnte und arbeitete. Dabei will die Ausstellung mit „norddeutschen Selbstbildnissen“, die derzeit noch im Kunsthaus Stade zu sehen ist, keinerlei genuin norddeutsches Ich-Bild etablieren oder gar völkische Kategorien bedienen. Die Klammer ist viel simpler: Mit Verve hat der Hamburger Peter Engel Porträts und Selbsterkundungen von Künstlern aus Norddeutschland gesammelt; die stellen sich nun, ergänzt durch diverse Leihgaben, dem Publikum.

Anfangs heißt das, der Entstehungszeit gemäß: zahlreiche Darstellungen von ernsten Männern mit Hut und Pfeife, gerne auch mit Staffelei. Bis dann die abstrakte Kunst nach einer anderen Formsprache verlangt, die die Künstler auch auf sich selbst beziehen. Später folgen die irgendwann Wilden, Rainer Fetting und Jörg Immendorf.

Präsentiert werden auch Dieter Roth mit einer seiner schönen Selbstskulpturen aus längst ungenießbarer Schokolade und Bilder vom nicht so leicht einzuordnenden Hans Platschek. Von Franz Erhard Walther hat man einige seiner exakten Bodenplatten ausgelegt, und aus den ganz frischen Jetzttagen sind Daniel Richter und – wenn einer Ich sagt, dann ja wohl er: – Jonathan Meese dabei, der sich das Gesicht verziert hat und vielleicht auch das Selbst.

Richtig spannend, zuweilen tatsächlich aufregend sind die künstlerischen Positionen der Zwischenphasen: aus den Zeiten, in denen sich Gewissheiten aufgelöst haben und Raum frei wird für Neues und, vor allem, Anderes. So sind die 1960er- und 70er-Jahre geprägt vom allmählichen Lösen von den – ja auch bildnerischen – Schrecken des „3. Reichs“, die Einflüsse der Pop-Art machen sich bemerkbar und eine allgemeine Politisierung erfasst mit Macht die Gegenwartskunst; Künstler wie Peter Nagel oder Diether Kressel treten mit hyperrealistischem Malstil an, ihre Umgebung nachzubilden – heraus kommt eine Kunst, die einem von heute aus seltsam bemüht erscheint und damit vergeblich.

Wenig überraschend: 52 Männern, deren Arbeiten ausgestellt werden, stehen neun Frauen gegenüber, dazu mit Anna und Bernhard Blume ein Künstlerpaar sowie eine Künstlergruppe, die und mit der Filmmacher Cooperative Hamburg. Dafür aber sind die Positionen der Frauen weitaus stärker: Das beginnt mit Anita Rées vordergründig flächigem Selbstporträt, das im Stil klassischer Wandmalerei die Künstlerin als frühzeitig gealterte Frau zeigt.

Dagegen offenbart Karin Wittes länglich hochgezogenes Selbstporträt, entstanden um 1976, eine ganz eigene Schüchternheit – zumal im Vergleich mit den fünf wandfüllenden Selbstporträts, in denen sich Harald Duwe, angelehnt an erkennungsdienstliche Polizeifotos, von allen Seiten abgebildet hat, weshalb die Serie „Steckbrief I–V“ heißt. Duwes Bilder sind erst mal wuchtig und imposant raumgreifend und wirken auch in ihrer schlichten Monumentalität. Aber diese Wirkung ist nach wenigen Augenblicken auch schon wieder vorbei.

Ganz anders ergeht es einem da mit den spröden Zeichnungen der heute weitgehend vergessenen Clivia Vorrath: Die Gründerin der Hamburger Produzentengalerie, geboren 1947, setzt immer wieder eine filigrane Figur an einen stilisierten Tisch, umgeben von massigen, schwarzen Blöcken – ein Verweis auf ihre eigene schwere Alkoholsucht, aus der es offenbar kein Entrinnen gab. Nach einem Unfall lag Vorrath sieben Jahre lang im Koma, ehe sie 1989 verstarb.

Aus dem Scheitern wird also Gelingen, wenn man es sich nur selbst eingesteht

Was aber allein schon den Besuch der Ausstellung lohnt: ein abgedunkelter Raum im zweiten Stock des Kunsthauses, darin eine Leinwand für anderthalb Stunden Filme und Videos. Was da zu sehen ist, erzählt nicht nur vom bewegten Bild als Versuchsfeld für die Ich-Erkundung, es lässt uns die Erschaffer auch sehr viel näher kommen als die gemalten Bilder.

Nehmen wir etwa das Videoporträt von Anna Oppermann: Die Künstlerin sitzt inmitten einer ihrer raumgreifenden Installationen und beginnt ihre Arbeitsweise zu erklären. Dass sie Zeichnungen und Fotos nachzeichnet, wiederum abfotografiert und hinzufügt, um nicht enden wollende Bilder-Landschaften zu kreieren, speise sich aus ihrer Unfähigkeit, sagt sie, ein einzelnes Bild zufriedenstellend malen zu können. Aus dem Scheitern wird also Gelingen, wenn man sich das Scheitern nur selbst eingesteht: „Ich zeichne nicht, um eine gute Zeichnung zu machen, sondern um in einen gewissen Zustand zu kommen.“ Zwischendurch schaut Oppermann verlegen auf ihre Fingernägel, verliert den Faden, fragt nach, was eigentlich die Frage war.

Mit Pfeil und Bogen ging Christian Jankowski 1992 einkaufen, in einem „Plus“-Supermarkt in Hamburg-Ottensen, und in dem daraus entstandenen Video braucht er gerade mal eine Minute und elf Sekunden, um den Topos vom Mann als Jäger ad absurdum zu führen.

Wirklich beeindruckend ist ein Video mit dem Performancekünstler Boris Nieslony; der lebt zwar seit Längerem in Köln, studierte aber in Hamburg und gründete 1977 dort auch das selbstverwaltete „Künstlerhaus in der Weidenallee“ mit. Mit ruhiger, kraftvoller Stimme erzählt der 1945 Geborene aus dem Off aus seinem Leben: Wie aus dem Heimkind, das er mit zwei Jahren wurde, das immer wieder verprügelt wurde, das abhaute und eingefangen wurde und das so um sein Leben und seine Autonomie kämpfte, dann doch ein in sich ruhender Künstler wurde.

Zwischendurch sieht man ihm beim Ordnen seiner Materialien in seinem Atelier und bei der einen und anderen Performance im öffentlichen Raum. Besonders eindrücklich eine Aktion in der Hamburger Innenstadt – es muss kalt gewesen sein, die Passanten tragen dicke Kleidung.

Und Nieslony? Zieht sich aus, streift sich auch die Unterhose ab, legt sich hin, rollt über den kalten Untergrund – und hält dabei einen großen Feldstein fest umklammert. Und man weiß nicht: Ist der Stein einfach nur schwer und lästig oder bietet er dabei nicht auch Halt? Sisyphos als Künstler – eine Ich-Werdung, mehr noch: eine Ich-Behauptung der ganz besonderen Art, bei der wir zuschauen dürfen.

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