Sommerlicher Synthiepop von Nite Jewel: Küsschen fürs Display

Die kalifornische Synthiepop-Künstlerin Nite Jewel veröffentlicht ihr angenehm unnahbares neues Album „Liquid Cool“. So klingt es auch.

Nite Jewel

Nite Jewel hat eine tolle Stimme und verwendet subsonisch-tiefe Bässe Foto: José Wolff

Die höchste Wirkung der Kunst tritt nur dann ein, wenn sie nicht fertig wird“, hat der Dramatiker Friedrich Hebbel postuliert. Ist ein Weilchen her, passt jetzt aber perfekt zur Entstehungsgeschichte von „Liquid Cool“, dem neuen, am Freitag endlich veröffentlichten dritten Album von Nite Jewel aus dem Suburb Echo Park, einem Tentakel des irren Tintenfischs Los Angeles.

Das Tolle am Nite-Jewel-Sound: Er zwingt seine HörerInnen, sofort runterzubremsen und genau hinzuhören. „Kiss the Screen“ etwa, einer von gleich mehreren hitverdächtigen Popsongs mit knisternden elektronischen Emotionen, erweckt zunächst den Eindruck, darin würde eine romantische Hollywood-Filmfantasie verhandelt.

Es geht aber durchaus empirisch um Dating-Kultur im Internetzeitalter, um Flirtportale und Smartphone-User, die ihre Gefühle lieber in der Anonymität der digitalen Sphäre ausleben als aufeinander zuzugehen und endlich zu knutschen. Herrgott noch mal!

Im dazugehörigen Videoclip, der zum Teil in einer mexikanischen Bäckerei aufgenommen ist, starrt ein junger schwarzer Angestellter wie gebannt auf sein Handy, während Nite Jewel, flankiert von zwei Tänzerinnen in deckungsgleichen Catsuits, um ihn so lasziv wie verzweifelt herumtanzt.

Auch der Albumtitel „Liquid Cool“ passt ins Bild. Er bezieht sich auf den bläulichen Schein, den Screens auf die Gesichter von Usern werfen. Als kulturpessimistische Kritik will das die Künstlerin aber nicht verstanden wissen. Auf dem Cover des Albums ist sie als fotoretuschierter Avatar mit leeren Gesichtszügen inszeniert. Ihre eigene Netzpräsenz hat Nite Jewel weitgehend zurückgefahren, seit sie 2013 den Song „Nowhere to Go“ für die fünfte Edition des Computerspielklassikers „Grand Theft Auto“ komponiert hat.

Benannt ist die 32-jährige Angelena Ramona Gonzalez, die aus einem Arbeiterviertel in East L. A. stammt, nach dem Song „Night Jewel“ der obskuren kalifornischen Band Nimbus Obi. Wie diese hat sich auch Nite Jewel dem Synthiepop verschrieben, allerdings ohne retroesken Überhang. Gonzalez hat keine Sehnsucht nach alten Keyboards, Geschäftsmodellen und Arbeitsverhältnissen, sie schraubt alles an ihrer Musik selbst.

Auf dem Albumcover ist sie als ein foto­retuschierter Avatar mit leeren Gesichtszügen inszeniert

Dem Profi entsagen

Für „Liquid Cool“ ging sie sogar so weit, dem Sounddesign ihres Lebensgefährten, des erfolgreichen Studiomusikers und Produzenten Cole MGN – er arbeitet etwa für Snoop Dogg und Beck –, zu entsagen. Cole sei ihr spiritueller Guide, aber seine Klangsignatur wäre für ihren eigenen Sound viel zu perfekt, erklärte sie in Interviews.

Auch von ihrem Indie-Label Secretly Canadian hat sie sich nach ihrem erfolgreichen Zweitling „One Second of Love“ (2012) wieder verabschiedet, sie verabscheue „Geschäftsleute in Rock-’n’-Roll-Kleidung“ und bricht eine Lanze für den kalifornischen Weirdo Ariel Pink und dessen schwer berechenbare Attitude. Das Verhältnis zwischen Label und ihr als Vertragskünstlerin habe einem klassischem Vater-Tochter-Autoritätsding entsprochen, sagte sie. Daher veröffentlicht Nite ­Jewel „Liquid Cool“ genau wie ihr Debütalbum wieder selbst.

„Beim Kompositionsprozess halte ich meine Klangelemente simpel, am meisten achte ich auf Stimme und Bass. Sie sind die Basis meiner Songs. Das entspricht auch meiner Alltagsphilosophie, mehr aussagen mit sparsamen Mitteln.“ Ihre Stimme klingt gleichzeitig alert und – durch Hall verfremdet – jenseitig und etwas herb.

Nite Jewel: "Liquid Cool" (Gloriette/H'Art);

auf Tour im Oktober

Wie der Nite Jewel genannte Cocktail, der ihr zu Ehren auf der Getränkekarte des Restaurants „Alma“ in West-Hollywood steht: Roggenwhiskey, Fernet Branca, Bitter, Zitronenlikör und eine Kirsche. Der satte Bass von Nite Jewel rumort wie die Stoßdämpfer der Low-Rider-Autos an den Verkehrsampeln von Los Angeles. Dabei vibriert der Arsch fast automatisch mit.

Aus amtlichen Popentwürfen für Starkünstlerinnen von Adele bis Empress Of dringt momentan eine grell ausgeleuchtete Sülze aus Geständnis und Gesang. Nite Jewel bleibt dagegen unnahbar. Auf den Songs von „Liquid Cool“ hält sie oftmals an sich und lässt die Musik für sich sprechen. In den Worten von Friedrich Hebbel: „Ein Geheimnis muss immer übrigbleiben.“

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