Soziologe über Bologna-Reform: „Eine irrsinnige Planungsfantasie“

Durch die Bologna-Reform ist das Studium komplizierter geworden, sagt der Organisationssoziologe Stefan Kühl. Vor allem die Kreditpunkte seien schuld.

Das Studium ist heute bürokratischer und verschulter als vor zehn Jahren, sagt Kühl. Bild: view7 / photocase.com

taz: Herr Kühl, Sie lehren Soziologie an der Uni Bielefeld. Was hat sich durch den Bachelor verändert?

Stefan Kühl: Ein Beispiel bringt es vielleicht auf den Punkt: Ich habe einmal an einer Abschlussfeier an einer anderen Uni teilgenommen. Den meisten Applaus bekamen nicht die Lehrenden, nicht die Tutoren oder Dozenten. Sondern die Mitarbeiterinnen des Prüfungsamtes! Ein Studium bekommt man heute nur noch organisiert, weil die Ressourcen in den Prüfungsämtern und Beratungsstellen so massiv ausgebaut worden sind. Ich hatte während meines Studiums nur einmal Kontakt zum Prüfungsamt, und zwar als ich mein Zeugnis abgeholt habe, jetzt sind die längsten Schlangen nicht selten vor den Prüfungsämtern.

Sie meinen also, früher war also alles besser?

Nein. Die Bologna-Reform hat aus meiner Sicht definitiv positive Seiten. Die Idee eines zweistufigen Studiums mit dem Bachelor als ersten und dem Master als zweiten Abschluss finde ich sinnvoll. Dadurch haben Studierende die Möglichkeit, aus einem Fach, das ihnen nicht gefällt oder nicht so liegt, nach drei oder vier Jahren herauszukommen, ohne gleich einen Studiengang abbrechen zu müssen.

Bisher fällt die Bilanz eher gemischt aus. Die Abbrecherquoten sind nicht wirklich gesunken.

Jahrgang 1966, ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Er ist Autor von „Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur“.

Die Befürworter und Gegner legen sich die Zahlen so zurecht, dass sie ihren jeweiligen Argumente stützen. Es gibt einen überraschenden Interpretationsspielraum, was Kriterien wie Studienabbruch oder Auslandsmobilität angeht. Ob die Bologna-Reform ihre Ziele erreicht hat, lässt sich schwer sagen. Was sich klar sagen lässt: Das Studium ist bürokratischer und verschulter geworden.

Im alten Magisterstudium mit seinen großen Freiheiten sind viele verloren gegangen – und haben oft nach langen Jahren entnervt hingeworfen.

Mehr Anleitung im Studium kann in einzelnen Bachelorstudiengängen didaktisch sinnvoll sein. Aber bei der Bologna-Reform haben wir Verschulungseffekte, die völlig ungewollt aufgetreten sind. Studiengänge werden plötzlich starr und kompliziert, ohne dass es nötig wäre. Es wird zunehmend schwieriger, die Leistungen von anderen Hochschulen oder von einem Auslandsaufenthalt anrechnen zu lassen. Das hat mit einem vermeintlich winzigen Detail der Bologna-Reform zu tun: mit der Einführung von Leistungspunkten.

Leistungspunkte zeigen an, wie viel Zeitaufwand eine bestimmte Veranstaltung bedeutet und wie stark ihr Gewicht für die Endnote ist.

Das war die Intention. Aber sie hat zu einer völlig irrsinnigen Planungsfantasie geführt. Man kann sich das so vorstellen: Wir haben einen Studenten Max Mustermann im Bachelor-Studiengang BWL. Nun überlegt man sich, dass dieser Student bis zum Abschluss 5.400 Stunden studieren soll, die nun stundengenau im Voraus verplant werden. So viele Stunden sitzt er in dieser Veranstaltung, so viele braucht er für eigene Lektüren und so weiter und so fort. Bis jede Stunde verplant und alle Punkte vergeben sind. Das Vorbild für diese Verechnungseinheiten waren offensichtlich die staatssozialistischen Planwirtschaften.

Darf man sich keine Gedanken darüber machen, was ein Studiengang beinhalten soll und wie zeitaufwendig die einzelnen Elemente sind?

Natürlich darf man. Aber man kann so eine komplexe Tätigkeit wie das Lernen an einer Universität nicht vorher stundengenau durchplanen und kleinteilig bepunkten. Diese Leistungspunkte sind an allen Hochschulen eine reine Kunstwährung ohne jeden Realitätsbezug. Das Studium verkommt zu einem Sudoku-Spiel: Man muss irgendwie Punkte verteilen, so dass es aufgeht.

Das heißt?

Da sitzen Studienplaner und stellen mit einem Mal fest: Wie ärgerlich, mein Studiengang hat nur 173 Punkte, braucht aber 180, es fehlen also noch 7 Leistungspunkte – also genau 210 Stunden – , die verplant werden müssen. Und dann rätseln sie und bauen hier noch eine Prüfung ein und da eine Übung. Aber eben nicht, weil es didaktisch geboten wäre, sondern damit das Punkte-Sudoku aufgeht. Bei den Studenten ist es genau so. Die betteln bei ihren Dozenten, dass zehn Minuten früher kommen und die Tafel putzen dürfen, nur damit sie den einen Leistungspunkt mehr bekommen, den ihre Studienordnung verlangt.

Man braucht ein Punktesystem, wenn Studienleistungen europaweit vergleichbar sein sollen.

Das ist der ganz große Bologna-Mythos. Die Bepunktung hat die Anrechnung von Studienleistungen erheblich erschwert und nicht vereinfacht! Zu meiner Zeit ging man einfach ins Ausland und hat nach der Rückkehr die Dozenten gefragt, ob sie diese und jene Veranstaltung als gleichwertig anerkennen. Das war überhaupt kein Problem.

Dafür war man dem Wohlwollen der Dozenten ausgeliefert.

Das ist man jetzt auch. Vielleicht sogar noch mehr, weil Dozenten und Prüfungsämter über völlig willkürlich zugeordnete Leistungspunkte hinwegsehen müssen. Selbst innerhalb von Deutschland ist die Bepunktung von inhaltgleichen Modulen ja uneinheitlich. Die Einführungsveranstaltungen in die soziologische Theorie werden überall ganz ähnlich gemacht, mit einer Vorlesung und einer Übung. Aber an der einen Uni gibt es dafür sechs Leistungspunkte, an der andern sieben, an wieder einer anderen zehn.

Was sollte sich ändern?

Mein Vorschlag lautet: Die Bologna-Reform muss auf einen Bierdeckel passen. Die Essenz lautet: Europaweit gilt das zweistufige Studium mit einem ersten Abschluss nach frühestens drei Jahren. Alles andere soll Sache der Hochschule sein. Punkt.

und das Chaos würde immer größer.

Man ist doch sowieso ständig damit beschäftigt, die Leistungspunkte zu ignorieren, wenn man Prüfungsleistungen anrechnen will, die die Studenten zum Beispiel im Ausland erbracht haben. Deswegen ist es besser, wenn man sich durch diese Zahlenfiktion nicht unnötig irritieren lassen muss. Das macht die Planung einfacher und nicht schwieriger.

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