Soziologe über Finanzkapitalismus: Gestatten, mein Name ist Geldadel

Im Finanzkapitalismus kehren vormoderne Sozialformen wieder, sagt der Soziologe Neckel. Wer reiche Eltern hat, wird reich. Da hilft nur eine neue Wirtschaftsethik.

Der moderne Geldadel, Produkt des Finanzkapitalismus. Bild: misterQM / photocase.com

taz: Herr Neckel, wissen Sie, wer Anshu Jain ist?

Sighard Neckel: Ja, der künftige Ko-Chef der Deutschen Bank.

Jain soll in fünf Jahren in London beim Investmentbanking 16 Milliarden Dollar für die Deutsche Bank verdient haben. Ist er ein Sinnbild für den Kasinokapitalismus?

Ja, weil er einen neuen Typ von Wirtschaftslenker verkörpert. Es gab im Beginn des Industriezeitalters den paternalistischen Unternehmer, der autoritär wie ein Vater regierte und für seine Beschäftigten sorgte. Nach 1950 setzt sich stärker der Typus des technokratischen Unternehmers durch – der Experte, der die Welt nicht ethisch, sondern technisch verbessern wollte. Dieses Ethos findet sich heute noch in der IT-Branche wieder: Man denke etwa an Apple. Der Finanzkapitalismus hat nun einen anderen Typus hervorgebracht: den globalen Investor, der sein Geld sofort zurückzieht, wenn das Risiko zu groß wird. Wir haben es hier mit einer Branche zu tun, in der nur Renditen und individueller Zugewinn zählen und die keine andere erkennbare Ethik hervorbringt.

Ist das wirklich ein neuer Typus?

Ja. Zum Unternehmerischen gehörte immer, dass Projekte scheitern können und der Unternehmer dann das Risiko trägt. Davon kann hier kaum die Rede sein.

Sind Jain und globale Finanzinvestoren wie Nicolas Berggruen Vertreter einer neuen globalen Klasse? Wir meinen das nicht feuilletonistisch, sondern soziologisch. Bringt der Finanzkapitalismus eine neue Klasse hervor?

Das wissen wir bisher noch nicht genau. Es gibt eine globale Ökonomie, die sich stark aus gesellschaftlichen Zusammenhängen gelöst hat. Aber ob die Akteure so stark ihre nationalen Kontexte verlassen haben, dass wir von einer globalen Klasse reden müssen, die durch Interesse, Kultur und Habitus verbunden ist, ist soziologisch nicht geklärt. In Deutschland scheint die Verbundenheit mit der Herkunft noch recht stark …

55, ist Professor für Soziologie in Frankfurt am Main. Derzeit arbeitet er an einer Studie über Professionsethiken im Finanzwesen. 2010 erschien von ihm „Strukturierte Verantwortungslosigkeit: Berichte aus der Bankenwelt“ (Suhrkamp).

Was heißt das?

Dass viele deutsche Manager noch in Deutschland ausgebildet worden sind, dass sie ihre Netzwerke hier haben. Allerdings spricht einiges dafür, dass dies nur bei den 50-Jährigen noch so ist. Die 30-Jährigen sind eher Prototypen der Globalisierung. Die jungen Investmentbanker in Frankfurt und Sydney, in London und Bombay sind auf ähnliche Business Schools gegangen, sie reden das gleiche Business-Englisch, lesen alle die Financial Times und führen ein ähnliches Leben, global und hochmobil. Und sie haben das gleiche Ziel: aus dem Geldhandel möglichst viel Gewinn für sich zu generieren.

Der 30-jährige indische Banker hat also mehr mit einem 30-jährigen Banker aus Toronto gemein als mit dem Nähmaschinenfabrikanten, der um die Ecke wohnt?

Ja, das kann man vermuten. Denn beide haben Finanzmathematik studiert, aber zur Produktionsethik des Unternehmertums kaum Kontakt. Interessant ist aber auch, dass im globalen Finanzkapitalismus, der als hochmodern gilt und seit etwa 20 Jahren die globale Ökonomie bestimmt, vormoderne Sozialformen wiederkehren.

Inwiefern?

Zum Beispiel: Die Herkunft ist wieder absolut ausschlaggebend für die soziale Platzierung. Wir sehen, dass dieser Trend in Deutschland für alle, die nach 1960 geboren sind, extrem angestiegen ist. Die soziale Position und der Wohlstand werden buchstäblich vererbt, die Gesellschaft ist sozial undurchlässiger geworden. Der Finanzkapitalismus bringt zudem eine Oberschicht hervor, die wie der frühere Adel jeder gesellschaftlichen Konkurrenz enthoben ist. Dieser moderne Geldadel ist, anders als der bürgerliche Unternehmer, kein Gegner gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mehr. Er steht nicht mehr im Konflikt mit anderen Klassen, die an seinem Reichtum teilhaben wollen. Das ist neu. Im bürgerlichen Kapitalismus standen die Klassen stets in wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen. Der moderne Geldadel aber existiert ohne Abhängigkeit von einer produzierenden Klasse. Es gibt eine Refeudalisierung gesellschaftlicher Strukturen im Finanzmarktkapitalismus.

Führt es nicht in die Irre, von Geldadel und Refeudalisierung zu sprechen? Ist diese Managerklasse denn unproduktiv?

Das Management der Finanzmärkte verdankt seine Rolle der Tatsache, dass es gigantische Summen ungebundenen Kapitals gibt, das auf der Suche nach Anlagen ist. So ist eine neue Dienstklasse entstanden – die professionellen Vermögensverwalter und Fondsmanager. Die legen das Geld ihrer Kunden an – das unternehmerische Risiko tragen aber nicht sie, sondern jene, die sie beauftragt haben. Italienische Postoperationalisten vertreten die These, dass im Finanzmarktkapitalismus eigentlich keine Profite mehr gemacht werden, für die man ein Risiko eingehen muss, sondern Renten.

Der Feudalismus war eine extrem starre Ordnung, der Finanzkapitalismus ist extrem dynamisch und störanfällig. Ist Refeudalisierung das richtige Bild?

Um kein Missverständnis zu produzieren: Natürlich gibt es keine Rückkehr zum Adel mit gepuderten Perücken. Mit dem Begriff Refeudalisierung will ich verdeutlichen, dass es in der gesellschaftlichen Bewegung „nach vorne“ zugleich auch eine „zurück“ geben kann. Modernisierungen bringen nicht immer „Neues“ hervor, sondern führen häufig genug zur Wiederkehr älterer Muster unter veränderten Vorzeichen.

Zum Beispiel?

Weg vom Leistungsprinzip, mit dem sich das Bürgertum einst vom Feudalismus abgrenzte, – hin zur Maxime des reinen finanziellen Erfolgs. Was immer man unter Leistung verstehen mag, stets ist dabei vorausgesetzt, Anstrengungen und Erträge vergleichen zu können. Sogar bei Bill Gates mag man meinen, dass er viel geleistet und sein Einkommen daher auch verdient hat, weil es mit einer ihm zurechenbaren ökonomischen Handlung verbunden ist. Bei den Gewinnen der Finanzeliten ist das alles ganz anders.

Warum?

Weil ihre Einkommen nicht durch Arbeit, Risiko oder Investitionen, sondern durch Spekulationsgewinne zustande kommen. Ob mit den Milliarden, die dabei verdient werden, gesellschaftlicher Nutzen entsteht, ist fraglich. Und: Die Millionengehälter und Boni der Akteure auf den Finanzmärkten folgen nicht dem Leistungsprinzip, sondern allein dem Markt. Deshalb vergleicht Josef Ackermann, noch Chef der Deutschen Bank, sein Einkommen nicht mit dem seiner Abteilungsleiter, sondern mit Stars wie Julia Roberts.

Also Schluss mit der Spekulation, zurück zur Realwirtschaft?

Zurück zu den Aufgaben, die Banken und meinetwegen auch Fonds haben: Geld für wirtschaftliche Aktivitäten bereitzustellen, die einen gesellschaftlichen Nutzen haben.

Wenn diese neofeudale Klasse strukturell abgehoben ist – kann man dann eigentlich noch sinnvoll dagegen protestieren? Die Occupy-Bewegung hat in den Bankenvierteln demonstriert. War das der richtige Ort?

Jein. Banken sind Verknotungspunkte dieses Systems. Es ist einleuchtend, die Geschäftspolitik von Banken anzuprangern und ein anderes Bankensystem zu fordern. Allerdings werden riesige Kapitalmengen längst jenseits davon, im Schattenbankensystem und in den Hedgefonds bewegt. Es ist also kein Wunder, dass die Occupy-Bewegung …

die Bundespräsident Gauck „unsäglich albern“ findet …

… so oft für naiv erklärt worden ist. Aber das ist oberflächlich. Denn Occupy spiegelt auch ein reales Problem wider: die Schwierigkeit, verantwortliche Akteure und den politischen Gegner ausfindig zu machen.

Der Finanzkapitalismus hat keine Adresse und E-Mail …

Genau.

Franz Müntefering hat mal von Heuschrecken geredet, feiner formuliert heißt das: Man fordert einen sozialen Patriotismus ein. Unterschreiben Sie das?

Nein, das ist mir zu national, zu rückwärtsgewandt.

Was dann?

Wir brauchen eine ethische Rückbindung ökonomischen Handelns. Und genau dies fordern soziale Bewegungen und die Öffentlichkeit heute ja ein. Wenn etwa kritisiert wird, dass sich finanzielle Gewinne von Leistungen völlig entkoppelt haben, verteidigt die moderne Gesellschaft nichts weiter als ihre eigene normative Geschäftsgrundlage.

Niklas Luhmann hat Wirtschaftsethik mit der englischen Küche verglichen: Beides existiert nicht …

Klingt gut, stimmt aber nicht, jedenfalls ökonomisch. Das kann man schon bei Adam Smith nachlesen. So wie wir die Politik auf die Menschenrechtscharta verpflichten, müssen wir der Ökonomie, der entscheidenden Macht im 21. Jahrhundert, moralische Standards auferlegen.

Die Frage ist: Nutzt das was?

Jede Wirtschaftsform braucht normative Ressourcen und Rechtfertigungen. Wirtschaftsformen können sich eine Weile vielleicht aus sich selbst legitimieren – solange sie wichtige gesellschaftliche Gruppen hinreichend mit materiellen Einkünften versorgen. Aber dies scheint vorbei zu sein. Auch in der Mittelschicht zweifelt man, ob man an der Verteilung der Wohlstandsgewinne noch gerecht beteiligt ist. Auch deshalb stehen die ökonomischen Institutionen unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck.

Also kann man die globale Klasse, die man scheinbar nur im Privatjet erwischt, doch gesellschaftlich zurückholen?

Es gibt Anzeichen dafür. Die Zeiten, als die Deutsche Bank 25 Prozent Eigenkapitalrendite als Botschaft aussenden konnte, sind vorbei. Das reicht nicht mehr aus. Und: Die ethischen Einsprüche enthalten ja auch Elemente der Sabotage. Accounts zu knacken, Transparenz herzustellen, Sand im Getriebe zu sein, das sind Versuche, die Jets auf den Boden zu bringen.

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