Sprengstoffräumung in München: Auf dem Pulverfass

Nach dem Fund von zehn Tonnen Weltkriegsmunition im Garten einer Münchner Familie gerät die Welt in dem kleinen Wohnviertel aus den Fugen.

Ein Bagger wühlt einen Garten um

Im Garten von Frau Meinberger ist explosiver Schrott mit dem Gewicht von sieben VW Golf vergraben Foto: dpa

MÜNCHEN taz | Zustandsstörer. Es ist dieses Wort, das Melitta Meinberger trifft. Die 72 Jahre alte Münchnerin will das nicht zeigen, als sie in der vergangenen Woche auf dem langen Balkon im ersten Stock ihres Hauses steht und auf das erdige Etwas hinunterschaut, das vor wenigen Tagen noch ihr Garten war. „Zustandsstörer“, sagt die Frau – lang, gedehnt, süffisant. „Das soll ich sein.“ So hat es ihr die Stadt München mitgeteilt.

Der friedliche Zustand in der Nachbarschaft um den Zwerg­ackerweg 3 im Münchner Norden wird durch Melitta Meinbergers Garten gestört. Genauer gesagt durch das, was darin vor langer Zeit vergraben wurde: zehn Tonnen an alter Munition, so schätzt es Heinrich Scho von der Sprengtechnikfirma H.B.S. – Patronen, Granaten, Panzerfäuste, Sprengstoff.

Dann wird während der laufenden Räumung auch noch hochexplosiver Phosphor gefunden. Die Sachen stammen aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch erst vor weniger als zwei Wochen wurde klar, um welche Dimension es sich handelt. Die Menschen in dieser beschaulichen Nachkriegssiedlung im Stadtteil Freimann lebten jahrzehntelang buchstäblich auf einem Pulverfass.

Zehn Tonnen. Ein VW Golf, Lieblingsauto der Deutschen, wiegt um die 1,4 Tonnen. Im Garten von Frau Meinberger ist explosiver Schrott mit dem Gewicht von sieben VW Golf vergraben. Sie sagt trocken: „Zum Lachen ist mir nicht.“ Vor allem droht ihr, einen Großteil der Räumungskosten von geschätzten 200.000 Euro selbst bezahlen zu müssen.

200 Bewohner sind von der Evakuierung betroffen

Zuerst war das Gebiet im Umkreis von 50 Meter um das Haus der Frau tagsüber gesperrt. In acht Häusern um den Zwerg­ackerweg durfte sich von morgens um acht bis nachmittags um 16 Uhr niemand aufhalten, so die Anordnung des Kreisverwaltungsreferats (KVR), eine Art städtisches Innenministerium.

Am Freitag hat sich die Lage wegen des Phosphors noch einmal drastisch zugespitzt. Die Gefahr, dass sich „Sprengmittel selbst entzünden“, sei höher als bisher angenommen, so das KVR. Alle Gebäude in einem Radius von 100 Metern wurden evakuiert, zunächst für zehn Tage. Betroffen sind 200 Bewohner aus 100 Häusern, für sie wurden von der Stadt Hotelzimmer gemietet.

Polizisten stehen da und verwehren den Zutritt, rot-weiße Absperrbänder sind angebracht. Die Sprengstoffentschärfer sind am Werk, ihr blaues Auto trägt die Aufschrift „Kampfmittelbeseitigung“. Ein Krankenwagen wird auch bereitgehalten.

Mühsam und vorsichtig wühlen sich die Mitarbeiter des Sprengtechnikers Scho im Garten durch die Erde und holen Stück für Stück der Kriegshinterlassenschaft heraus. 40 Werktage sind dafür vorgesehen, erst am 9. Mai wären sie damit fertig. Zu Beginn der Räumungsarbeiten füllten sich die kleinen, engen Straßenzüge mit vielen Fernsehteams. Zwar wird immer wieder Kriegsmunition gefunden, müssen Bomben entschärft werden. Aber zehn Tonnen? Und das soll die Betroffene auch noch selbst bezahlen.

Dann kommen Reporter

Der Fall erscheint einzigartig. Vorübergehend wird Melitta Meinberger zur öffentlichen Person, die in ihrem Bayrisch sagt: „Mein Gott, werd ich berühmt.“ Ihre Ironie ist auch eine Methode des Selbstschutzes. Als sie an einem frühen Abend vor der Evakuierung zu Fuß um die Ecke zu ihrem Haus kommt, warten die Reporter schon. „Frau Meinberger, bitte ein paar ganz kurze Fragen“, rufen sie. Sie spricht in die Kameras: „Ich war erst einmal sprachlos. Ich bin sehr verärgert und enttäuscht.“

Laut Gesetz trägt der Grundstücksbesitzer die Kosten einer solchen Räumung. Das Fazit einer TV-Reporterin: „Man kann nur hoffen, dass man keine Bombe im Garten hat.“

Die Angelegenheit hat eine längere Vorgeschichte. Als vor knapp fünf Jahren das Nachbargrundstück in der Oberen Hausbreite mit einem schmucken Doppelhaus neu bebaut wurde, entdeckte man Munition in der Erde. Und einen Teil einer unterirdischen Betonwanne, die sich später als ziemlich groß erwies. „Mir war klar“, erinnert sich Melitta Meinberger, „dass bei mir auch was von der Wanne und wohl auch Sprengstoff ist.“ Wie viel, wusste niemand.

Von ihrem Balkon schaut sie auf das, was mal ihr Garten war. Die Hecke ist weg, die Beete, der Gemüsegarten, der Rasen, die Holzhütte. „An Ostern mag ich es ja eigentlich bunt“, sagt sie. Stattdessen steht ein kleiner Bagger in der braunen Masse.

Wie kommt die ganze Munition dorthin?

Am östlichen Teil des Gartens haben die Kampfmittelbeseitiger angefangen, und deutlich ist dort schon der freigelegte Beginn des Beckens zu sehen. Es war einmal ein „betoniertes Löschwasserbassin“, wie das KVR mitteilt. Die Größe ist nun auch bekannt. „25 Meter lang, 15 Meter breit, bis zu 6 Meter tief“, sagt Frau Meinberger.

Wie kommt die ganze Munition in dieses Riesending? „Freimann war ein absolutes Militärgebiet“, berichtet Brigitte Fingerle-Trischler vom Kulturzentrum Mohrvilla, wo man sich der Erforschung der Lokalgeschichte widmet. Eine SS-Kaserne war dort und auch die große Bayernkaserne, in der heute Flüchtlinge untergebracht sind. Fingerle-Trischler vermutet, dass am Kriegsende viele Soldaten ihre Waffen und Munition in den Löschteich „schnell weggeworfen haben“. Auch gab es in Freimann seit 1870 einen Armeeschießplatz, der erst in den 1970er Jahren von der Bundeswehr aufgegeben worden war.

Die Frau aus Freimann beschreibt die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit: „Hier hat man zunächst mit Hütten und alten Eisenbahnwaggons Wohnraum geschaffen. Das ging wild zu, es waren Schwarzbauten, sie wurden geduldet und dann legalisiert.“

Beim Aufräumen hätten die Menschen das überall herumliegende Kriegsmaterial „in die Grube geworfen“. Mehrfach sind in dieser Zeit Kinder beim Spielen durch Explosionen ums Leben gekommen.

Die Stadt soll die Kosten übernehmen

Melitta Meinberger sagt, dass sie immer bereit gewesen sei zur Munitionsräumung. Allerdings wollte sie durchsetzen, dass die Stadt die Kosten übernimmt. „Dieses Becken ist in keinem Lageplan verzeichnet“, argumentiert sie. 1950 haben ihre Eltern das Haus von der „Bayerischen Landessiedlung“ gepachtet und 1960 gekauft.

Das ist eine Gesellschaft, die ehemals im Besitz des Freistaats war und den Zweck hat, den Wohnungsbau zu fördern. „Der Boden wurde für Wohnzwecke genehmigt“, sagt die Hausbesitzerin. Von der Munition wusste wohl niemand etwas. Jahrelang prozessierte sie gegen die Stadt, doch sie bekam nicht recht.

Das KVR brachte den Begriff des „Zustandsstörers“ ins Spiel. Er stammt aus dem Sicherheitsrecht. Zustandsstörer sind laut einem Jura-Forum Menschen, die „bewusst die öffentliche Sicherheit stören“. Sie seien „für die Beeinträchtigung des betreffenden Zustands verantwortlich zu machen“ und könnten „zur Beseitigung der von ihnen verursachten Gefahren in Anspruch genommen werden“. Schon im April 2013 wurde Melitta Meinberger der Bescheid auferlegt, so teilt das KVR gegenüber dieser Zeitung mit, „die Entmunitionierung des Grundstücks durch eine Fachfirma durchführen zu lassen“.

An diesem Dienstagabend fährt Melitta Meinbergers Schwiegersohn mit dem Auto vor. Er wohnt mit Frau und den zwei kleinen Kindern im Erdgeschoss. Der Schwiegersohn hat eine FC-Bayern-Jacke an, trägt einen Kasten Weißbier rein, sagt kurz „Servus“ und macht dann gleich die Tür zu. Währenddessen führt Frau Meinberger in ihre Wohnung im ersten Stock und zeigt den Garten.

Die Tochter steht in der Tür: „Mama, jetzt hörst du auf und kommst runter.“ Sie aber erzählt noch, wie sie im Supermarkt eine Boulevardzeitung in den Einkaufswagen legte und sich selbst darin sah. Schnell drehte sie die Zeitung um.

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