Stendal-Stadtsee. Eine Ortserkundung (2): Alles auf Stillstand

Brina hatte als Kind schon keine Träume. Nicki wollte Popstar werden. Daraus wurde nichts. Wie es ist, wenn die Jungen das Leben der Eltern fortsetzen.

Für das geschenkte Boot sucht Arche-Gründer Mario Tiesis noch einen Liegeplatz. Und für ein Jugendprojekt noch 60.000 Euro Foto: Sebastian Wells

STENDAL taz | Hinter dem Parkplatz vom Lidl, hinter dem Schnellimbiss „Bistro Casablanca“, hinter dem Spielplatz, auf dem sich die Trinker treffen, schlüpft ein Mädchen, sechs, sieben Jahre, in einen Flur und zieht die Tür hinter sich zu. Draußen glänzt Eis auf dem Asphalt, drinnen stockt Heizungsluft über den Holztischen, es riecht nach Essen. Antonia ist heute die Erste, gleich werden Darleen, Felix, Virginia und all die anderen kommen.

Mario Tiesis: Man muss das erst mal begreifen: dass es in dieser Republik Kinder gibt, die Hunger haben.

Anke Peters*: Wenn ich mir etwas wünschen dürfte? Einfach mal mit meinen Kindern ein schönes Erlebnis zu haben – einen Urlaub, es müssen ja nicht gleich zwei, drei Wochen sein.

Antonia: Ich komme fast jeden Tag in die Arche. Man kann essen und spielen, was man möchte. Ich spiele meist alleine.

Um zu verstehen, warum Deutschland immer ungleicher wird, hilft es, einige Zeit in Stendal-Stadtsee zu verbringen. In manchen Siedlungen des Stadtteils leben rund 80 Prozent der Familien an der Armutsgrenze. Doch was bedeutet die Abhängung ganzer Viertel für die Grundwerte der Demokratie? Einigkeit, Recht, Freiheit – eine Ortsbegehung in drei Episoden, Teil 1 hier.

Nächste Woche: Freiheit. Armut engt ein. Dennoch gibt es in Stadtsee Menschen, die sich ihren Spielraum ertrotzen.

Wo die Arche ist, war früher ein Schreibwarengeschäft, niedrige Räume in einer Ladenzeile am Rand von Stendal, nördliches Sachsen-Anhalt. Ringsum liegen Plattenbauten, so als habe ein Riese Bauklötze auf Wiesen verstreut. Mario Tiesis, ein schwerer Mann mit Schnauzbart, hat die Arche vor acht Jahren gegründet.

Mario Tiesis: Ich mach das hier ehrenamtlich. Noch. Das muss sich ändern. Es macht keinen Spaß, von Hartz IV zu leben.

Anke Peters

Mit dem Hartz IV ist auszukommen. Muss man ja. Man kennt es nicht anders

Frau Wernecke: Viele unserer Schüler müssten nicht auf die Förderschule gehen. Aber die haben keine Strukturen erfahren. Zu Hause fragt bei denen keiner: Wie war’s in der Schule?

Ein Besuch in der Pestalozzischule macht anschaulich, was manche Ökonomen schon länger sagen: dass es in kaum einem industrialisierten Land ungleicher zugeht als in Deutschland. Die Schule ist Förderzentrum für Lernbehinderte, die 140 Schüler leben meist in prekären Verhältnissen: Arbeitslosigkeit, alleinerziehende Mütter, bildungsferne Haushalte. Es ist nicht nur, dass Kinder aus armen Familien schlechte Bildungschancen haben. Es ist auch, dass viele Menschen in Vierteln wie Stadtsee keine Möglichkeit haben, dem System Hartz IV je zu entkommen.

Anke Peters: Wir waren zu Hause fünf Kinder, unsere Eltern haben sich scheiden lassen. Von meiner Mutter hab ich das übernommen, dass ich im Haushalt eine Grundordnung drin habe. Obwohl sie jeden Tag acht Stunden auf der Arbeit war, als Reinigungskraft, Ordnung war bei uns drinne.

Zu Hause fragt bei den Schülern keiner: Wie war's in der Schule? – Ute Wernecke, Konrektorin der Pestalozzischule Foto: Sebastian Wells

Frau Wernecke: Die Kinder kriegen vorgelebt, dass sie keine Chance haben. Eltern, die jahrzehntelang zu Hause sind, können den Schülern nicht vor­leben, dass man sich anstrengen muss. Manche Kinder sagen schon: Ich werde Hartzer.

Grundgesetz ohne Wirkung

Sachsen-Anhalt ist das Flächenland mit der höchsten Quote armutsgefährdeter Kinder, 30 Prozent sind betroffen. In wohlhabenden Bezirken wie Oberbayern sind es knapp 10. Der Anspruch, überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse vorzufinden, ist im Grundgesetz festgeschrieben. Aber in Vierteln wie Stadtsee scheint das nicht zu gelten.

Mario Tiesis: Hat der Corey* wieder keine Winterschuhe an?

Praktikantin: Nein.

Stendal-Stadtsee war zu DDR-Zeiten ein Vorzeigeviertel. Hier sollten die Arbeiter des AKW leben. Das Kraftwerk ging nie ans Netz Foto: Sebastian Wells

Antonia: Ich gehe in die erste Klasse. Die Schule macht Spaß. Nicht gut finde ich, dass manche mich ärgern. „Fick dich“, sagen die und schubsen mich.

Anke Peters: Mit dem Hartz IV ist auszukommen. Muss man ja. Man kennt es nicht anders. Ich vermeide, mit den Kindern in die Stadt zu gehen, weil wenn die Spielzeug sehen, leiden die.

Anke Peters, eine schmale Frau, 41 Jahre, sitzt in ihrem Wohnzimmer; ringsum rote Kissen auf weißen Polstern; Kunstrosen, Kerzen. Sie lebt mit ihren vier Söhnen, der älteste ist 19, der jüngste 6 Jahre alt. Fahrzeugschlosserin hat sie gelernt, danach geputzt, Büroarbeit gemacht und in einer Holzwerkstatt gearbeitet, alles befristet, dazwischen wechseln bei ihr Phasen der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen, Weiterbildungen.

Anke Peters: Ich bin so ein Mensch, ich mach das alles. Ich hab einen Stapel Zertifikate. Aber dass ich mal vier, fünf Jahre in einer Firma gearbeitet hätte -– das ist noch nicht passiert.

Zu DDR-Zeiten sollte das Viertel Raum schaffen für all die Arbeitskräfte. Ein Atomkraftwerk entstand – das größte Bauprojekt der DDR. Am Reißbrett entwarfen die Planer Stadtsee I, II, III. Die Straßen kasteln die Wohnblocks ein, dazwischen die ermüdende Symmetrie der Parkplätze, und dann ist das Viertel plötzlich zu Ende. Die Pestalozzischule erhebt sich, ein Betonklotz, drei Stockwerke, dahinter kommt nur noch Gestrüpp und Brachland. Ute Wernecke, Konrektorin, sitzt in ihrem hellen Büro, rötlich getönte Haare, Brille, rosa Pullover.

Frau Wernecke: Wir haben Kinder, deren Eltern bleiben morgens im Bett. Die stehen alleine auf, kommen ohne Frühstück und nehmen an der Mittagsversorgung nicht teil. Wir reden mit den Eltern, aber es ist schwierig, weil die oft auch schon auf der Förderschule waren.

Mario Tiesis sieht jeden Tag die gleichen Gesichter. Etwa 20 Kinder kommen regelmäßig in die Arche. Er selbst ist Ofensetzer, dann kam ein Bandscheibenvorfall. Seine letzte Stelle verlor er vor acht Jahren. Zwar hat er eine wichtige Arbeit, aber niemanden, der ihn bezahlt. Wenn es die Arche nicht gäbe, würden die Kinder mittags nichts zu essen kriegen.

Mario Tiesis: Die werden zu Hause nicht wahrgenommen. Die Eltern liegen auf der Couch mit dem Tablet. Eine Mutter habe ich mal angerufen, um wegen ihrer Tochter etwas zu besprechen. Die Mutter sagte: Ich kann jetzt nicht, ich bin grad Level 7.

Darleen: Ich heiße Darleen – D-a-r-l-e-e-n. Alle schreiben das falsch, sogar meine Mutter. Ich bin elf Jahre alt, habe vier Geschwister, einen Hund und ein Meerschweinchen. Ich würde gerne zu Oma aufs Dorf ziehen; da hätte jeder von uns ein eigenes Zimmer.

Wenige Straßen entfernt, im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, sitzt eine kleine Gruppe junger Frauen um einen Tisch. Das Jobcenter hat ihnen diese Maßnahme aufgegeben, damit sie lernen, wie man seinem Tag eine Struktur gibt.

Brina: Man lernt, wie man mit dem Arsch aus’m Bett kommt.

Nicki*: Als ich ein Kind war, wollte ich Popstar werden.

Brina: Ich hatte als Kind keine Träume.

Frances, Brinas Freundin, hat die Maßnahme schon abgeschlossen und ist zu Besuch da. Sie erwartet ihr drittes Kind. Wenn es in die Kita geht, will sie eine Ausbildung machen, das hat sie sich fest vorgenommen.

Frances: Ich teile mir mein Geld gut ein. Ich reg mich über die Leute auf, die jammern, weil sie mit dem Hartz IV nicht auskommen. Weil eigentlich müsste das Geld reichen, auch Rauchen geht, man muss nur stopfen.

Brina: Ich würde gut klarkommen, aber mein Freund ist erst 25, der will noch viele Dinge haben, Spiele für die Playstation. Alleine wär ich besser dran.

Wer eine Weile in Stadtsee ist, spürt, dass sich viele arrangiert haben. Die Älteren haben oft ihre Stelle nach der Wende verloren, die Jüngeren kennen nichts anders. Krise ist das Normale, niemand wird laut. Vor dem Shopping-Center schiebt ein Briefbote sein Fahrrad.

Briefbote: Ich trag nachts die Volksstimme und tagsüber Briefe aus. Jetzt kam die Mindestlohnerhöhung um satte 34 Cent. Dann krieg ich ein Schreiben: Meine Arbeitszeit wird reduziert. Aber ich muss nach wie vor 260 Zeitungen pro Nacht austragen.

Für die Schüler der Pestalozzischule geht es meist mit einem Berufsorientierungsjahr weiter, dann kommen Weiterbildungen, und wenn es gut läuft, stehen ihnen am Ende Hilfsberufe offen, Kinderpflegehelfer, Altenpflegehelfer. Ute Wer­necke ist eine engagierte Lehrerin. Ihr Beruf macht ihr Spaß, trotz allem.

Frau Wernecke: Ich denke, man muss akzeptieren, wie es ist. Dass es so ist. Ich weiß, dass ich nicht jeden erreiche. Wir haben Schüler, bei denen ist jede Mühe zu viel, von denen müssen wir uns distanzieren.

Arche ohne Zuschuss

In Stendal ist die Arbeitslosigkeit, aktuell 10,6 Prozent, seit der Wende gesunken, davon merken die Leute in Stadtsee wenig. Ihre Blocks stehen wie Monolithen, in denen sich nichts bewegt. Aber es gibt soziales Engagement, Mütter, die Flaschen auf dem Spielplatz aufsammeln, Ehrenamtliche, Freiwillige. Mario Tiesis finanziert die Arche aus Spenden, die Mittel sind knapp. Öffentliche Zuschüsse gibt es nicht.

Mario Tiesis: Wir haben hier Kinder, die klauen, spucken, beißen, Neunjährige, die meine Frau anschreien: Du Nutte. Denen müssen wir Hausverbot ­geben, die brauchen Therapien, das können wir nicht leisten.

Briefbote: Im Fernsehen werden immer nur die schlechten Seiten von Stadtsee gezeigt. Aber was sollen wir machen? Wir sind die Verlierer der Einheit.

Der Briefbote schiebt sein Rad weiter, die Trinker auf dem Spielplatz ziehen ihre Anoraks fester. Zwischen den Wohntürmen ist viel Luft; viele wurden abgerissen, andere saniert. In Stadtsee I gibt es nun Luxusblocks mit Concièrge, da wohnen Professoren. Nach Stadtsee III ziehen keine Mittelschichtfamilien. Selbst Asylsuchende sind oft schnell wieder weg.

Frances: Jeder kann etwas aus sich machen. Mein Neffe zum Beispiel: Wir dachten alle, der landet mal im Knast, der hat nur Scheiße gebaut, Bomben gebastelt, Autos gesprengt, dann war er auf dem rechtsradikalen Trip. Aber seit er 14 ist, macht der nichts mehr. Der hat die Kurve gekriegt.

Frau Wernecke: Sobald die Eltern sagen: „Ich stehe hinter meinem Kind, ich will, dass es auf die Sekundarschule wechselt“, würden wir das unterstützen. Aber das passiert recht selten.

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