Sterben an Europas Außengrenzen: Die zahllosen Toten

Niemand weiß, wie viele Menschen auf der Flucht nach Europa im Meer sterben. Das ist politisches Kalkül.

Ein Schiff voller Flüchtlinge in Seenot

Schiffshavarie im Mai 2016, irgendwo im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien Foto: dpa

MYTILINI taz | Ein Korridor, dunkel, leer und unheimlich. Nur ein Zettel verrät, dass hier jemand arbeitet. Darauf steht handschriftlich: „Hochzeiten, Tode, Geburten, Taufen, Scheidungen und Namensänderungen können hier registriert werden“. Glück und Trauer sind die größten Gefühle im Leben eines Menschen, und doch holt spätestens ein herabhängendes Kabel im Büro von Aphrodite Andrikou und ihren zwei Kollegen jeden Besucher zurück in den Alltag.

Das Kabel baumelt von einem der Tische, an dem sich jeder hier vorbeiquetschen muss, weil es in diesem Büro viel zu eng ist. Zigmal am Tag bleibt ein Besucher daran hängen, und dann kracht das Telefon auf den Boden. Die Beamten in der Gemeindeverwaltung von Mytilini, stellen es jedes Mal wortlos wieder an seinen Platz.

Im vergangenen Jahr wurden in dem kleinen Büro schrecklich viele Tote registriert. Der Kühlcontainer hinter dem Krankenhaus war oft so voll, dass die Helfer die Leichen im Gebäude aufbahren mussten. Aphrodite Andrikou und ihre Kollegen füllten dann bis in die Nacht und auch am Sonntag Todesprotokolle aus. „Ich beschwere mich nicht“, sagt die Verwaltungsbeamtin, „die Pathologen mussten ja auch Überstunden machen.“

Mit Drohnen und Kriegsschiffen

In einem normalen Jahr sterben in Mytilini, dem Hafenstädtchen der Ferieninsel Lesbos in der griechischen Ägäis, rund 400 Menschen. Aber die vergangenen Jahre waren keine normalen Jahre. In 2015 und in den ersten Monaten 2016 lag Lesbos auf der am häufigsten genutzten Schmugglerroute nach Europa.

856.723 Flüchtlinge und Migranten überquerten hier das Mittelmeer, hinter sich in Sichtweite die türkische Küste und vor sich Europa. Das hat auf dieser kleinen Insel, auf der insgesamt nur 86.000 Menschen leben, alles verändert.

Jeden Tag fährt ein Schnellboot von der türkischen Hafenstadt Ayvalık nach Mytilini, das Ticket kostet 15 Euro, die unspektakuläre Fahrt dauert eineinhalb Stunden. Für Flüchtlinge kostet dieselbe Strecke 1.200 Euro, dafür reisen sie in kaputten Gummibooten. Andere steigen an einem noch weiter entfernten Strand in Libyen für 1.500 Euro in klapprige Tanker Richtung Italien. Viele kommen nie an.

Schmuggler führen keine Passagierlisten

Nach fünfzehn Jahren „Krieg gegen den Terror“ zieht Europa auch deshalb die Grenzen hoch, um eine ganze Generation fernzuhalten, die aus dem kriegszerstörten Afghanistan flieht. Doch die europäischen Regierungen sehen es nicht in ihrer Verantwortung, diejenigen zu zählen, die auf dem letzten Stück ihrer Flucht sterben.

Katja Franko, Kriminologin

Wenn man etwas thematisiert, wird es zur Verantwortung

Genaue Zahlen zu bekommen, ist keine leichte Aufgabe. Menschenschmuggler führen keine Passagierlisten, Überlebende können oft nicht sagen, wie viele mit ihnen noch an Bord der überfüllten Boote waren. Das europäische Überwachungssystem Eurosur ist offiziell nah dran an den Flüchtlingen: Die Grenzschutzagentur soll illegale Migration bekämpfen – und helfen, das Leben von Flüchtlingen zu retten.

Frontex und Eurosur nutzen alle verfügbare Überwachungstechnologien: Israelische Drohnen fliegen über Finnland, Kriegsschiffe patrouillieren im Mittelmeer, Satelliten übermitteln Luftaufnahmen der Außengrenzen – wäre Frontex nicht genau die richtige Agentur, um Statistiken über diejenigen zu erheben, die es nicht über die Grenzen schaffen?

399 Tote zwischen Januar und November

„Nein“, sagt Ewa Moncure, die Frontex-Sprecherin. „Dafür sind wir nicht ausgerüstet.“ Die Satellitenbilder zeigten zwar Frachter, doch die Gummiboote seien auf dem Radar selten zu erkennen. Und auch ein neues Programm, das Bewegungen bereits an der libyschen Grenze aufzeichnen soll, vermittle keinen genauen Überblick.

Intern allerdings zählt Frontex zumindest die Toten, die von Schiffen der Grenzmissionen „Poseidon“ und „Triton“ aus dem Meer gefischt werden. Zwischen Januar und November vergangenen Jahres waren das 399 Menschen, sagt Moncure. Doch bisher tauchen diese Zahlen in keinen offiziellen Berichten auf.

Also bleiben der Öffentlichkeit nur die Schätzungen der nichtstaatlichen Akteure wie zum Beispiel der International Organisation for Migration (IOM): 4.913 tote Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer 2016. Diese Zahlen basieren auf Informationen von Grenzschützern und Pathologen, Medienberichten und Interviews mit Überlebenden.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) arbeitet ähnlich. Sie schätzen, dass noch 2015 einer von 269 Flüchtlingen auf den Mittelmeerrouten nach Europa starb, 2016 war es einer von 88. Besonders für die Fahrt von Libyen nach Italien ist das Risiko extrem: Hier kam einer von 47 Flüchtlingen ums Leben.

Die Schiffe werden immer klappriger

Der Grund für das enorm gestiegene Risiko auf dieser Strecke ist, dass die Schiffe immer klappriger werden. Und dass diese gefährliche und lange Route als eine der letzten noch offenen Fluchtstrecken blieb, nachdem die Landgrenzen bereits länger dichtgemacht wurden.

Eine Frau mittleren Alters mit kurze Haaren steht hinter einem Schreibtisch in einem vollgestopften Büro mit Heiligenbildern an der Wand

Aphrodite Andrikou muss wegen der vielen toten Flüchtlinge häufig bis in die Nacht arbeiten Foto: Nikos Pilos

Die kürzere Seestrecke zu den griechischen Inseln sind seit dem EU-Türkei-Abkommen im März 2016 abgeriegelt. Lesbos erlebt seither erneut einen krassen Wandel. Im Sommer 2015 gab es Tage, an denen bis zu 9.000 erschöpfte Menschen an den Strand wateten.

Nach dem 20. März 2016 waren es mal 28 und mal 60. Oder auch null. Im Gegensatz zu früher allerdings dürfen sie nicht mehr aufs Festland weiterreisen – was für die Inseln ganz neue Probleme mit sich bringt. An den Stränden aber herrscht nun wieder touristische Idylle.

„Aufzeichnen, was hier passiert“

Aphrodite Andrikou arbeitet seit 35 Jahren in der Inselverwaltung. Sie ist stolz darauf, ihren Job mit Sorgfalt zu erledigen. „Ich dokumentiere hier Geschichte“, sagt sie. „Für mich ist es das Allerwichtigste, dass das, was hier passiert, aufgezeichnet wird.“

Investigate Europe ist ein pan­europäisches Pilotprojekt: ein Team mit neun Journalisten aus acht Ländern, das europaweit relevante Themen recherchiert, gemeinsam Thesen erarbeitet und alle Ergebnisse teilt. Unterstützt wird das Projekt von der Hans-Böckler-Stiftung, der norwegischen Fritt Ord Foundation, der Stiftung Hübner und Kennedy, der Rudolf Augstein Stiftung und der Open Society Initiative for Europe. Das Team arbeitet mit den NGOs Journalismfund und N-Ost zusammen. Die Recherchen zum Grenzregime werden in ganz Europa veröffentlicht. Zu den Medienpartnern gehören neben der taz unter anderem Newsweek Polska, Público, Aftenposten, Tagesspiegel, Corriere della Sera und Vice (Griechenland). Mehr zum Projekt unter: investigate-europe.eu

Schätzungen sind nichts für Aphrodite Andrikou. In den Todesprotokollen, die sie ausfüllt, geht es um echte Menschen und das, was von ihnen bleibt. „Manchmal gibt es weder ein Todesdatum noch einen Namen, manchmal kennen wir nicht mal das Geschlecht. Das ist so traurig.“ Und dann sagt sie noch: „Einmal hatten wir sogar ein Kind ohne Kopf.“

Kein Vertreter der EU-Behörden hat sich jemals über den Tisch in diesem engen Büro gebeugt, um ihre Zahlen zu studieren. Aber ein Forscherteam aus den Niederlanden war da. 2014 und 2015 reisten zwölf Forscher in 563 Gemeinden in fünf Mittelmeerländern, um herauszufinden, wie viele tote Flüchtlinge in den lokalen Registern verzeichnet sind. Sie halfen mit, die Register zu digitalisieren, und filterten Migranten und Flüchtlinge heraus. Am Ende stand eine Zahl für den Zeitraum von 1990 bis 2013: 3.188 Menschen.

Frisch aufgehäufte Friedhofserde

„Das ist eine sehr niedrige Zahl“, sagt der verantwortliche Professor Thomas Spijkerboer von der Freien Universität Amsterdam. Aber die sei erstmals belastbar und keine Schätzung. Zu sehen, wie die Beamten jahrelang Protokolle ausgefüllt hätten, mit der vagen Hoffnung, dass irgendwann jemand käme und sich dafür interessiere, das habe ihn berührt.

Wenn die Familien der Toten und Vermissten das Glück haben, ein Visum zu erhalten und auf die Suche gehen zu können und dann auch noch an die richtigen Helfer geraten, dann führt der Weg von der Registrierungsstelle oft zu einem Friedhof. In Mytilini liegt dieser auf einem Hügel, am Ende einer schmalen, steilen Straße, am Horizont glitzert die Ägäis.

Dort, wo Menschen aus dem Ort beerdigt wurden, sind die Gräber geschmückt mit Steinen aus Marmor und frischen Lilien. Dahinter liegt ein offenes Feld. Wer es betritt, versinkt mit den Schuhen in der frisch aufgehäuften Erde, ringsum einfache graue Steine. „Dilan Huseen 2015“ steht auf einem, auf einem anderen „Alia Grgis 2015“.

Wer nicht gezählt wird, zählt nicht

„Die beiden sind ein trauriger Fall“, sagt Efstratios Yannakis, der hier schon viele Gräber ausgehoben hat. Er erzählt von ihrem Vater, der seine Kinder suchte und auf dem Friedhof wiederfand. Immerhin hat er eine Antwort erhalten, die meisten Flüchtlingsfamilien wissen nichts – nicht, ob ihre Väter, Mütter, Kinder, Schwestern und Brüder wirklich tot sind und nicht, wo und wie sie starben. Es gibt keine Gräber mit Namen, die sie besuchen können.

Dabei wäre es möglich, eine europäische Datenbank für tote Flüchtlinge und Migranten einzurichten, sagen Experten. „Alles, was wir getan haben, war die Zahlen der Gemeinden zu übernehmen, die diese schon lange gesammelt hatten“, sagt Professor Spijkerboer. Heute seien nahezu alle Personenregister digital. Es bräuchte nur eine entsprechende Software. „Wir könnten bei der Einrichtung helfen“, sagt Spijkerboer. „Das Einzige, was fehlt, ist der Wille.“

Dass hier das Problem liegt, steht für ihn fest. Seine Forschungsgemeinschaft schlug vor, das EU-Parlament könne eine Art „Beobachtungsstelle für Grenzen“ einrichten. „Wir haben nie eine Antwort erhalten.“ Als Forscher ist ihm klar: Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Ohne Daten werde ein Thema nicht als solches wahrgenommen, stehe es auf keiner Agenda.

„Moralische Pflicht, etwas zu tun“

Katja Franko, Kriminologieprofessorin in Oslo sagt: „Wenn man etwas thematisiert, dann wird es zur eigenen Verantwortung. Wenn tote Migranten sichtbar werden, wird es zur moralischen Pflicht, etwas zu tun.“

Sollte jemals ein EU-Beamter bei ihnen anfragen, Aphrodite Andrikou und ihre Kollegen wären bereit.

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