Studierende gegen Berliner Uni-Professor: Der Andere ist keine Sphinx

An der Berliner Humboldt-Uni geht eine trotzkistische Gruppe gegen den Historiker Jörg Baberowski vor. Was er denkt und sagt, passt ihnen nicht.

Die Humboldt-Universität in Berlin

Das Denkmal Alexander von Humboldts vor der nach ihm benannten Universität in Berlin Foto: dpa

BERLIN taz | „Lesen, was da steht. Hören, was gesagt wird. Sehen, was gezeigt wird. So fängt Geschichte an.“ Jörg Baberowski, Vorlesung „Hermeneutik und Geschichte“, 18. Oktober 2017

So fängt auch diese Geschichte an, die von einem Historiker handelt, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, spezialisiert auf Osteuropa, Stalinismus- und Gewaltforscher mit jahrelanger Russland-Expertise, deswegen nicht nur als Russland-Experte gehandelt, sondern auch als Russland-Versteher beschimpft.

Und das ist noch einer der milderen Vorwürfe gegen den schlanken Mann mit der dunklen Metallbrille, der an einem sonnigen Oktobermorgen im Herbst 2017 die Vorlesungsreihe zu „Hermeneutik und Geschichte“ eröffnet. Andere nennen ihn „rechtsradikal“, bezichtigen ihn der „Flüchtlingshetze“ oder der „Geschichtsfälschung“.

Der Hörsaal im alten Universitätshauptgebäude Unter den Linden hat Holzbänke und Klapppulte, durch die hohen Fenster zum Innenhof fällt der Blick auf Zinnen und klassizistische Skulpturen. Friderizianische Architektur, humboldtscher Geist, ein Ort, der die schlummernden Ideale einer zweckfreien Bildung wachruft. Die aufsteigenden Reihen des Hörsaals sind locker gefüllt, in den vorderen Bänken sitzt ein Trupp Altsemester. Der Baberowski-Fanclub, sie kommen immer.

Baberowskis Sätze sind zum Mitschreiben

Das Knarren des Holzes stört, die nächste Vorlesung wird in einem modernen Hörsaal stattfinden. „Lesen ist immer deuten und interpretieren, den Sinngehalt entschlüsseln.“ Jörg Baberowskis Sätze sind klar, verständlich, schön, es sind Sätze zum Mitschreiben, Sätze, die etwas auslösen. „Verstehen ist der Modus unserer Existenz. Die Art, wie wir mit anderen in der Welt sind.“

Hermeneutik ist die Kunst der Auslegung, es geht um Regeln der Deutung, das Ringen um Verständnis, was jemand gemeint haben könnte. Was Generationen vor uns gedacht haben könnten. Das Verstehen ist, auch aufgrund unserer eigenen Geschichtlichkeit, begrenzt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das Thema dieser Vorlesung hat also viel mit Jörg Baberowski zu tun. Wenn man versuchen will, ihn zu verstehen; wenn man versuchen will zu verstehen, was ihm passiert ist; wenn man versuchen will zu verstehen, wie ihm die anderen begegnen. Gern entlässt er die Studenten mit einem Spruch. „Widerlegen Sie sich selbst, einmal am Tag, das tut gut“, sagt er. Das sagt sich so leicht. Vor allem, wenn es darum geht, dass man sich selbst widerlegt. Oder ist es schwieriger, von anderen in Frage gestellt zu werden?

„Dass wir verstehen, heißt nicht, dass wir auch richtig verstehen.“ 1. November 2017

Jörg Baberowski während einer Vorlesung

Glänzender Vortragender, Sätze zum Mitschreiben: Jörg Baberowski in seiner Vorlesung Foto: Karsten Thielker

Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, kennt dieses Problem seit Jahren. Er fühlt sich oft missverstanden. Ähnlich wie sein Kollege, der Politikwissen­schaftler Herfried Münkler, der gleich nebenan im Hörsaal Unter den Linden über Kapitalismus referiert, ist der Historiker gezielter studentischer Kritik ausgesetzt.

Münkler wurden wahlweise ­Militarismus, Chauvinismus, Gewaltverherr­lichung, eine einseitige Literaturauswahl in seinen Seminaren zum Vorwurf gemacht – Stu­denten äußerten diese Kritik anonym in einem Blog, dem Münkler-Watch, der inzwischen eingestellt ist; der Fall Jörg Baberowski liegt etwas anders.

Baberowski retweetet Roland Tichy

Die Kritik gegen den Berliner Historiker richtet sich nicht gegen seine Literaturlisten oder Lehrtätigkeit, sondern gegen seine publizistische Tätigkeit, er schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung und der Basler Zeitung über deutsche und russische Geschichte, Flüchtlings- und Asylpolitik.

Zu den Miteigentümern der Basler Zeitung in der Schweiz zählt der Rechtspopulist Christoph Blocher. Wer für den schreibt, ist in den Kreisen, die Baberowski kritisieren, verdächtig. Auf Twitter verbreitet er auch noch häufig Tweets von Leuten­ wie dem Pu­blizisten Roland Tichy, die sich „liberal-konservativ“ nennen, andere würden sagen: stramm rechts.

„Ich habe kein Problem mit den Studenten“, sagt Jörg Baberowski. „Die sind alle sehr nett. Die Stalker kommen nicht in meine Seminare, sie geben sich nicht zu erkennen“

In Baberowski und Münkler trifft die Kritik zwei prominente Professoren, die das öffentliche Wort nicht scheuen und mit Medien umzugehen wissen; und in beiden Fällen ist auf studentischer Seite eine kleine linke Hochschulgruppe involviert, die Baberowski nur „die Sekte“ nennt. Anders als Münkler hat er versucht, juristisch gegen sie vorzugehen – mit mäßigem Erfolg.

Was dürfen Professoren? Was dürfen Studenten? Es geht in dieser Geschichte nicht allein darum, wie viel Kritik erlaubt ist, auf beiden Seiten – und wie viel Verständnis erforderlich. Die Universitäten waren bisher hierarchische Gefüge, in die das Internet und die Kultur der Drittmittel inzwischen weit vorgedrungen sind.

Die Diskurshoheit liegt nicht mehr nur bei den Profs

Studierende evaluieren Professoren, in Deutschland anonym – in den USA sind sie da schon weiter. Sie kritisieren Literaturlisten als eurozentristisch oder zu männlich. Identitätsdiskurse, Postkolonialismus, Queer und Gender Studies stehen hoch im Kurs. Die Diskurse ändern sich, und die Diskurshoheit liegt nicht mehr nur bei den Lehrenden.

Wird die Uni demokratischer? Oder herrscht ein neuer Moralkodex, der sich unmerklich in Denk- und Sprechverboten niederschlägt und damit letztlich das Gegenteil erreicht?

In einem Büro- und Geschäftshaus an der ­Berliner Friedrichstraße befindet sich die Phi­losophische Fakultät der Humboldt-Uni. Eine graue Gegenwelt zum alten Hauptgebäude, dem auch das Studierendencafé „Exil“ mit seinen ausrangierten­ Sofas nicht viel Flair verleihen kann.

Das Institut­ für Geschichtswissenschaften liegt im fünften Stock, grauer Teppich, braune Türen, verschachtelte, lange Gänge. Es ist mit zwanzig Professoren und Professorinnen vergleichsweise groß, etwa 1.500 Studierende sind hier eingeschrieben. „Ich habe kein Problem mit den Studenten“, sagt Jörg Baberowski in seinem Büro, das außer einem großen Schreibtisch mit einem Zeitschriftenstapel auch eine Sitzecke hat. „Die sind alle sehr nett. Die Stalker kommen nicht in meine Seminare, sie geben sich nicht zu erkennen.“

Überhaupt scheint das Institut ein Hort der Ruhe und Moderation zu sein. Hier hält Baberowski ein Masterseminar über „Politisches Denken in Russland“, heute geht es um Lenins Text „Was tun?“. Ein überraschend unmarxistisches Konzept, weil es die Idee des Berufsrevolutionärs propagierte, erklärt er.

Die Diskussion im Seminarraum zwischen ihm und den etwa 20 überwiegend männlichen Anwesenden schleppt sich. Er fragt sehr pädagogisch, fast suggestiv; sie antworten freundlich, der schweigende Teil starrt auf den Text oder schreibt die Antworten mit. „Die meisten Studenten sind unpolitisch“, sagt Baberowski später. „Sie wissen nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Sie probieren sich aus.“ Und dann sagt er: „Es gibt keine Diskussionen, keinen Streit mehr an der Uni.“

Flugblatt der Trotzkistengruppe

„Jörg Baberowski ist für seine Flüchtlingshetze bekannt“

„Aus der Geschichte können wir gar nichts lernen. Wir können allenfalls lernen, was man aus der Geschichte machen kann. Die Geschichte steht uns leider nicht zur Verfügung.“ 10. Januar 2018

Vor etwa vier Jahren begann das, was Baberowski seither verfolgt. Jahre, die ihm zugesetzt haben. „Mir ist viel klarer geworden, wie das System der Anpassung funktioniert“, sagt er. Seinen Ursprung hat der Streit in einem Vorfall von 2014, als Baberowski den britischen Historiker Robert­ Service in sein Kolloquium einlud, den Verfasser einer kritischen Trotzki-Biografie.

Zu kritisch für die Hochschulgruppe International Youth and Students für Social Equality, abgekürzt IYSSE, die als Jugendorganisation der Sozialistischen Gleichheitspartei agiert. Die IYSSE protestierte gegen den geplanten Auftritt von Service, aus einem wissenschaftlichen Kolloquium drohte eine Art Tribunal zu werden, weshalb Baberowski das Treffen an einen geheimen Ort verlegte; seither herrscht Krieg zwischen der Gruppe und dem Berliner Historiker.

Der Konflikt eskalierte, als der Asta der Uni Bremen sich im Herbst 2016 gegen eine Einladung Baberowskis aussprach. Der Ring Christlich-Demokratischer Studenten und die Konrad-Adenau­er-Stiftung hatten ihn eingeladen, um sein Buch „Räume der Gewalt“ vorzustellen.

Auf einem Flugblatt des Asta hieß es, Baberowski „rechtfertigte in der jüngeren Vergangenheit wiederholt gewalttätige Ausschreitungen gegen Geflüchtete und Anschläge auf deren Unterkünfte, bedient sich nationalistischen Vokabulars und vertritt rechtsradikale Positionen im politischen Streit um migrationspolitische Fragen“. Und: „Er steht der AfD in nichts nach.“

Auf diesem Flugblatt wurde auch ein Satz zitiert, den er auf dem Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“ 2015 bei 3sat im Zusammenhang mit Gewalt gegen Flüchtlinge im sächsischen Heidenau sagte, und der ihm seither immer wieder vorgehalten wird: „Überall da, wo viele Menschen aus fremden Kontexten hinkommen und die Bevölkerung nicht eingebunden wird in die Regelung all dieser Probleme, da kommt es natürlich zu Aggression.“

Baberowski erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen den Asta Bremen; bei der Verhandlung vor dem Landgericht Köln errang er einen Teilsieg; er sei sinnentstellend zitiert worden. Die Flugblattverfasser ließen nämlich weg, was Baberowski noch gesagt hatte: „Gott sei Dank ist in Deutschland noch niemand umgekommen.“

Die Brandanschläge seien schlimm genug, aber angesichts der Probleme Deutschlands mit der Einwanderung „ist es ja noch eher harmlos, was wir haben“. Nach Ansicht des Gerichts zeige das vollständige Zitat, dass Baberowski Gewalttaten ablehne und sie nicht als natürliche Reaktion von Bürgern ansehe. Dennoch sei es durch die Meinungsfreiheit gedeckt, ihm „rechtsradikale Positionen“ zu unterstellen.

Trotzkist Sven Wurm

Trotzkist Sven Wurm Foto: Karsten Thielker

Damit muss er seither leben, seine Klage zog er im Revisionsverfahren wegen einer drohenden Niederlage zurück. Und den Versuch, eine einstweilige Verfügung beim Landgericht Hamburg gegen die Sozialistische Gleichheitspartei zu erwirken, weil ihn diese notorisch der „Geschichtsfälschung“ bezichtigt, ließ er im November 2017 fallen.

Ist das keine Kampagne, kein versuchter Rufmord? „Er hat alle Möglichkeiten, sich zu wehren“, sagt Sven Wurm im Café Einstein, gegenüber vom Institut. Geht man auf seine Facebook-Seite, die zugleich die der IYSSE ist, rangiert der „Fall Baberowski“ zuoberst, mit zahlreichen Einträgen. „Das Internet ist doch kein einseitiges Medium“, sagt Wurm. „Umgekehrt ist es ja auch so, dass Professoren in Zeitungen mit hoher Auflage ihre Studierenden kritisieren. Die Anonymität des Münkler-Watchs war vollkommen legitim. Wir von der IYSSE sind allerdings immer offen aufgetreten.“

Die trotzkistische Splittergruppe hat also ein Gesicht. Große Statur, Bart, dunkle, kurze Haare, Sven Wurm studiert Geschichte im 9. Semester, Schwerpunkt Universitätsgeschichte. Seminare von Baberowski hat er nie besucht, nur eine Vorlesung. „Er stilisiert sich als persönliches Opfer“, sagt Wurm, „dabei ist das eine politische Auseinandersetzung. Er relativiert die Verbrechen der Nazis und bringt Standpunkte in die öffentliche Diskussion, die über Jahrzehnte nicht sagbar waren.“

Sven Wurm bezieht sich dabei auf eine – nur im Kontext nachvollziehbare – Äußerung Baberowskis, Hitler sei nicht grausam gewesen und Stalin ein Psychopath. Wurm spricht gern und fast ausschließlich von „wir“. Verändert also das Internet die Kommunikation, das Machtgefälle zwischen Professoren und Studierenden? „Es beinhaltet zumindest die Möglichkeit, die Uni demokratischer zu gestalten.“

„Wenn man Gewalt verstehen will, die einem völlig irrational erscheint, muss man sich klarmachen, dass auch Gewalt eine Möglichkeit des Handelns im Leben ist.“ 10. Januar 2018

„Ich erlebe es an der Uni immer mehr, dass man sich nicht mit Positionen beschäftigen will, die man nicht teilt.“ Alexander Schnickmann, 23, blass, kahl, rundes Gesicht, dunkle Brille, schätzt die Herausforderung, schätzt den Dissens, schätzt deswegen auch Jörg Baberowski, für den er als studentische Hilfskraft arbeitet. „Alle haben die gleiche Meinung“, sagt er, „es ist eine große Blase an der Uni.“

Student Alexander Schnickmann

Student Alexander Schnickmann Foto: Karsten Thielker

Dazu gehören für ihn eine Portion Moralismus und Selbstbezogenheit, zählen Identitätsdiskurse, kulturalistisches Denken, all das, was man unter den Begriff Politische Korrektheit packt. Schnickmann hat an der Humboldt-Universität und bei einer Buchvorstellung erlebt, wozu dieses Klima führen kann. Er erzählt von einem Studenten, der in einer Diskussion nicht mitreden durfte, weil er, als Nichtbetroffener, „nicht dazugehörte“ und sich nach dem Prinzip der Selbstbezichtigung entschuldigte.

An den US-Universitäten ist der moralische Verhaltenskodex – wer geht wie mit wem um – eingebunden in einen wissenschaftlichen Diskurs und bereits viel ausgeprägter. Reglementierter, fortgeschrittener, womöglich fortschrittlicher. Erreicht das nun unsere Universitäten? Und hat es nicht längst den gesellschaftlichen Mainstream erreicht?

„Viele Studierende internalisieren das auch hier“, beobachtet Schnickmann. „Sie denken, sie dürfen sich zu bestimmten Themen nicht äußern.“ Umgekehrt führe dies zu einer Art narzisstischer Selbstermächtigung: dass also nur man selbst über das reden darf, was einen betrifft, andere dürfen das nicht. Als Erstsemester war er schüchtern, neu in Berlin. „Die Überforderung bewirkt, dass man sich auf das Enge, Dörfliche zurückzieht. Aus Unsicherheit redet man den anderen nach dem Munde.“

In der Café-Bar Kapitalist im Prenzlauer Berg mit den rohen Betonwänden, wo es nur Getränke und einen Raucherraum gibt, sitzt er gern zum Lesen. Ihn interessiert das Abseitige, das außerhalb der Norm Liegende, er hält das, was durch Identitätsdiskurse entsteht, für „langweilig und anti-demokratisch“. Sind das Denkverbote? – „Ja. Aber zuerst kommen die Sprechverbote.“

Anders als in der Amerikanistik oder in den Kulturwissenschaften geht es im Fachbereich Geschichte politisch nicht so korrekt zu, sagt Schlickmann. Da stelle sich allenfalls die Frage, ob man den Staatsrechtler Carl Schmitt lesen darf oder nicht. „Ich muss doch bereit sein, mich mit allem zu beschäftigen. Gerade im Fach Geschichte. Es geht ja darum, Menschen in anderen Kontexten zu verstehen. Als Historiker machen wir das ständig: Empathie entwickeln für etwas, was wir gar nicht haben oder sein wollen.“ Und er setzt hinzu: „Es muss ja keine liebevolle Empathie sein.“

Jörg Baberowski sitzt kurz vor Semesterende in dunkelblauer Hose und dunkelblauem Pulli auf dem gelben Sofa in seinem Büro. Dies ist kein parteipolitisches Statement, wählen war er schon länger nicht mehr, er fühlt sich politisch „völlig ungebunden“.

Links, liberal oder konservativ, das sagt ihm nichts mehr. Geht das nicht vielen Menschen so? Dass sich politische Gewissheiten, Zugehörigkeiten auflösen, gerade angesichts einer sich moralisch festigenden Neuen oder Identitären Rechten? Baberowski ist überzeugt, dass man mit der AfD pragmatischer umgehen sollte. „Man muss sie einbinden. Das ist die alte CSU.“

Er wirkt entspannt an diesem Morgen, trotz laufender Prüfungen, auf dem Tisch ein Teller mit Schokoriegeln und ein Coffee to go. Der Historiker würde eher von Sensibilität als von Empathie in der Geschichtswissenschaft sprechen. Zu viel Mitgefühl könnte den klaren Blick trüben.

Viele Jahre hat er in Petersburger und Moskauer Archiven zugebracht, sich mit den Lagern, Terror und Gewalt auseinandergesetzt. Für sein Buch „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“ hat er 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten.

Die Kulturwissenschaftler sind abgesprungen

Mit seinem Kollegen Michael Wildt ist er dabei, ein „Zentrum für vergleichende Diktaturforschung“ zu initiieren – das ausgehend von Forschungen zu Nationalsozialismus und Stalinismus Diktaturen in den Blick nehmen soll. Ein interdisziplinäres Projekt, an dem neben der philosophischen und der juristischen Fakultät auch das kulturwissenschaftliche Institut beteiligt sein sollte.

Die Kulturwissenschaftler seien abgesprungen, erzählt Baberowski, es gab Differenzen beim Diktaturbegriff, ob und wie dieser moralisch zu werten sei. Nichts für ihn: „Ich will wissen, warum die Menschen Hitler gefolgt sind. Dass Hitler ein schlechter Mensch war, wissen wir schon. Diese Erkenntnis bringt die Forschung über Diktaturen aber nicht weiter.“ Diktaturen will er als modernes Phänomen untersuchen: „Warum sind die so attraktiv, auch heute?“

Diese kleine Episode ist bezeichnend für ihn und wie er sich sieht: der Historiker als Person, die alles erforscht, die neugierig ist und ohne moralische Vorbehalte. Und nur so zu neuen Erkenntnissen kommt. „Man muss zwischen Moral und Analyse trennen. Moralische Urteile bewerten, erklären aber nichts.“ Moral oder besser: zu viel Moral wird zum Störfaktor, macht blind, verhindert Diskussion und Streit, führt schlimmstenfalls zum Tugendkult.

Baberowski würde sagen: Tugendterror. „Es ist allgegenwärtig in der Universität. Glaubensbekenntnisse, die abgegeben werden. Man fragt: Wer bist du? Und nicht: Was sagst du?“

Er als Wissenschaftler, als Aufklärer, sieht sich deswegen in der Rolle desjenigen, der die „Tugendwächter“ herausfordert. Unangenehme Fragen stellt, unangenehme Antworten gibt. Der provoziert – und sich provozieren lässt, der gern gegen die kulturelle Hegemonie der Linken wettert, die er für eine „Wohlstandselite“ hält und der er eine Tribalisierung der Gesellschaft vorwirft.

Der gegen eine naive Willkommenskultur ist und ein rigides, aber funktionierendes Einwanderungsgesetz fordert. Der gerne Tichys Tweets retweetet und der kürzlich in einem Interview mit dem Nachrichtenportal t-online.de über Russland sagte: „Wir sollten eigentlich froh darüber sein, dass Putin an der Macht ist.“ Das klingt dann vielleicht erst mal so hingeworfen, das muss man nicht mögen, aber wer das Interview komplett liest, findet Argumente, die auf historischer Analyse beruhen und die Auseinandersetzung ermöglichen.

Vorurteilsfrei über Diktaturen forschen?

Sven Wurm von der IYSSE war bei dem Symposium Anfang November zugegen, bei dem das „Zentrum für vergleichende Diktaturforschung“ vorgestellt wurde. „Es wurde sehr offen über die Vorzüge von Diktaturen räsoniert“, meint er. „Was heißt, vorurteilsfrei an Diktaturen herangehen? Man kann in einem Land wie Deutschland nicht vorurteilsfrei an Diktaturen herangehen.“

Das Institut, die Fakultät stehen hinter dem Projekt und haben im Frühjahr eine Stellungnahme veröffentlicht, in der es heißt, Baberowskis wissenschaftliche Äußerungen seien, „insbesondere in ihren Kontexten, nicht rechtsradikal“.

Laura Hassler, Studentin

„Die Fachschaft ist inhaltlich gespalten. Einig sind wir uns darin, dass wir die Diskussionskultur, die Form des Umgangs miteinander ablehnen“

Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen werden; Forscher, deren analytische Sicht auf die Welt als Meinung, als Politikberatung gleichsam indiziert wird; Studentengruppen, die winzig sind und über Facebook Wucht erzeugen, Professoren, die twittern. Die Kommunikationsstrukturen an den Unis haben sich verändert, damit auch die Konzepte der Wissensvermittlung und die Art, miteinander zu diskutieren.

„‚Welche Geschichte wollen Sie denn hören?‘ Das ist eine gute Antwort auf die Frage, was wir denn aus der Geschichte lesen …“ 10. Januar 2018

Das Freund-Feind-Schema im Fall Baberowski greift schnell, vielleicht unvermeidlich, und sich dem zu entziehen fällt schwer. Professoren ebenso wie Studierenden. Die Fachschaftsinitiative Geschichte hat eigentlich eine vermittelnde Funktion, doch in dieser Angelegenheit sieht sie sich in ihrer Mission gescheitert.

Laura Haßler, Masterstudentin der Geschichtswissenschaft, betritt als Vertreterin der Fachschaftsinitiative das Café Einstein, es wird im Verlauf der Recherche dieser Geschichte fast eine Art Außenstelle. „Die Fachschaft ist inhaltlich gespalten“ in seiner Sache, das habe sie versprochen zu sagen, stellt sie gleich zu Anfang klar, sie wollen sich auf keine Seite stellen. „Einig sind wir uns darin, dass wir die Diskussionskultur, die Form des Umgangs miteinander ablehnen.“ Es ist der jungen Frau mit der runden Brille und den dunklen Haaren anzumerken, dass es ein quälendes Thema ist.

In die Fachschaftsinitiative wird man nicht gewählt, es darf jeder mitmachen und mit abstimmen. Bis vor Kurzem waren hier auch zwei Mitglieder der IYSSE aktiv, einer davon Sven Wurm. Als es darum ging, ob es eine Solidaritätsadresse der Fachschaftsinitiative mit dem Asta Bremen wegen Baberowski geben soll, sollen die IYSSE-Leute ziemlich starken Einfluss auf das Plenum ausgeübt haben – der Antrag wurde schließlich angenommen. Laura Haßler erinnert sich: „Immer wenn die zum Plenum kamen, lautete einer der Tagesordnungspunkte: Baberowski.“

Alexander Schnickmann, der Baberowski-Mitarbeiter, war ebenfalls in der Fachschaftsinitiative aktiv, er sagt: „Kleingruppen können eine große Wirkung erzielen.“ Ihm komme das bekannt vor: „Die Bolschewiki waren eine sehr kleine, aber disziplinierte Gruppe. Das ist klassischer Entrismus.“ Also das gezielte Eindringen in eine Organisation, um dort an Einfluss zu gewinnen.

Studierende in der Baberowski-Vorlesung

In Baberowskis Vorlesung „Hermeneutik und Geschichte“, Wintersemester 2017/18 Foto: Karsten Thielker

Man könnte auch sagen: Es ist Dauerbeschuss, Kampagne, Hyperaktivität, Nerverei. Wann ist der richtige Zeitpunkt, in solchen Fällen Stellung zu beziehen? Und für wen? Laura Haßler lässt die Frage offen. Auch wenn sie Baberowskis politische Positionen nicht teilt und nicht gutheißt, so trage er diese jedenfalls nicht in seine Seminare.

Anders als ihr Kommilitone Alexander ­Schnickmann stöhnt sie nicht über zunehmende Denk- oder Sprechverbote an der Uni. Tugend­diktat? „Ich empfinde das nicht so, der Begriff ist ideologischer Unfug“, sagt sie. Die Fachschaft ist gut ins Institut und in die Gremienarbeit integriert, dennoch vermisst Laura Haßler „mehr Partizipation. Es könnte wesentlicher demokratischer sein.“

Das gilt allerdings auch für das Studentenparlament. Kurz vor dem Gespräch bringt die Studierendenzeitschrift Unaufgefordert einen Bericht darüber, wie sich die gewählten StudentInnenvertreter der Humboldt-Universität über Jahre Posten zugeschachert haben. Offenbar ist das ein sehr geschlossener Zirkel, aus dem viele absichtlich herausgehalten werden. Als gehe es nicht um Hochschulpolitik, sondern um Diskurskontrolle.

„Die Begriffsbildung entspricht den Begriffen, die wir uns machen, und nicht der Wirklichkeit, die da draußen wartet, begriffen zu werden“ 17. Januar 2018

Einige der Zuhörer der Hermeneutik-Vorlesung sind nach nebenan zum Politikwissenschaftler Münkler abgewandert. Obwohl Jörg Baberowski ein guter Redner ist, der nicht zu akademisch spricht, oft lebensgeschichtliche und oft amüsante Schleifen einstreut.

Am Morgen des 17. Januar liegen Zettel auf jedem Pult. „Was könnt ihr gegen die IYSSE tun? Geht wählen!“ steht auf dem Flugblatt der Initiative Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit, auf der Rückseite „Achtung: Die IYSSE lügt“, sie diffamiere gezielt Professoren wie Baberowski und Münkler. Als Baberowski ans Mikro tritt, stellt er klar, dass dies nicht von ihm kommt.

Studentin Judith Basad

Studentin Judith Basad Foto: Karsten Thielker

Es ist der zweite Tag der Wahlen für das StudentInnenparlament. Auf den Toilettentüren im Universitätsgebäude kleben IYSSE-Wahlaufrufe. Unter dem Punkt „Wissenschaft statt Kriegspropaganda“ heißt es: „Jörg Baberowski ist für seine Flüchtlingshetze und die Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus bekannt.“

Die Wahlbeteiligung wird auch in diesem Jahr wieder nur bei acht Prozent liegen. Die IYSSE wird von vier Sitzen zwei verlieren. 60 gibt es insgesamt.

Judith Basad, die Literaturwissenschaften an der Freien Universität studiert, hat die Aktion der Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit organisiert. Die Auseinandersetzung um Jörg Baberowski verfolgt die 31-Jährige schon länger. „Ich stimme mit seinen Aussagen auch nicht überein. Aber das ist kein Grund, ihn so fertigzumachen“, sagt sie.

Im Sommer wollte Basad an der Freien Universität eine Diskussionsrunde mit ihm veranstalten – es hat sich niemand gefunden, der mit ihm diskutieren wollte. „Die Kollegen hatten Angst, mit Schmutz beworfen zu werden.“ Auch sie fragt sich: „Werde ich jetzt als rechts abgestempelt? Das ist ein ganz, ganz blödes Gefühl.“

Basad schreibt gerade an ihrer Masterarbeit. Ihre Fragestellung lautet: Wann kippen Utopien ins Autoritäre? Sie will das am Konzept der „Safe Spaces“ erforschen, jener an manchen Unis vorhandenen Orte, an denen nicht diskriminiert werden darf. Viel diskutiert, weil Kritiker durch so etwas die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen. Baberowski ist ihr Zweitgutachter. Sie schätzt seinen „kalten analytischen Blick“, erprobt an Hitler und Stalin. „Das ist in der aufgeheizten Debatte ungemein wichtig. Er sagt ja gar nicht, wie er etwas moralisch findet.“

Basad sieht durchaus, dass man bei ihm „die Gewöhnung an problematische Narrative kritisieren könnte“. Baberowski hat ein Buch über „Räume der Gewalt“ geschrieben, über Gewaltexzesse im Zweiten Weltkrieg und im Gulag, über die Kriegserlebnisse seines Vaters, ein Buch darüber, wie veränderte Kontexte veränderte Verhaltensweisen bewirken. „Wo hört das Verstehen auf?“, fragt Basad. „Es gibt einen Punkt, an dem die Moral wieder einsetzen muss.“

„Der Andere ist keine Sphinx.“

„Verstehen ist immer mit einem Identitätsopfer verbunden. Man gibt etwas von sich preis und lässt etwas von sich gelten.“ 14. Februar 2018

Die letzte Vorlesung im Semester. Die Februarsonne strahlt, der Professor betritt den Raum mit dunkel eingefärbten Brillengläsern. Viel ist in den letzten Monaten von Verstehen und Nichtverstandenem die Rede gewesen. Wie viel Verständnis bringt Baberowski für seine Kritiker auf? – „Ziemlich viel. Ich weiß, wie Sekten funktionieren.“ Baberowski war selber als Schüler im KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, heute kann er sein Engagement für das mörderische Pol-Pot-Regime nicht mehr nachvollziehen.

Hat er in den vier Jahren Fehler gemacht? „Natürlich. Ich habe nicht immer diplomatisch agiert.“ Er wechselt das Personalpronomen. „Man hätte nicht klagen dürfen. Solche Fragen lassen sich gerichtlich nicht klären. Und man muss vielleicht nicht auf jede Provokation reagieren.“

Das sagt einer, der selber gern provoziert. Und mit jeder Reaktion, die er hervorruft, Gefahr läuft, noch eins draufzusetzen. „Ohne eine gewisse Verhärtung kann man Konflikte dieser Art nicht durchstehen“, sagt Jörg Baberowski. „Selbstradikalisierung aber führt zu nichts, weil sie einen blind für die Realität macht. Ich habe mir geschworen, so etwas wie Nolte passiert mir nicht.“

Der Historiker Ernst Nolte hatte in den achtziger Jahren den „Historikerstreit“ ausgelöst, weil er die Singularität des Holocausts infrage stellte. Mit dem wollte am Ende keiner mehr reden, sagt Baberowski. Das soll ihm nicht passieren. Lieber redet er, sucht das Gespräch. Lieber widerlegt er sich jeden Tag einmal selbst – das tut allen gut.

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