Tecno Brega Compilation: Mode und Verzweiflung

Tecno Brega regiert den Dancefloor im Norden Brasiliens. Geprägt wird der Stil von Musikern und Tänzern gleichermaßen.

Tecno Brega DJ Waldo Squash. Bild: Man Recordings

Seit den achtziger Jahren ist Brega in Brasilien ein Kürzel für romantische Synthesizermusik, populär und vorhersehbar. Doch jetzt ist im Norden Brasiliens, nahe am Amazonasdelta, eine elektronische Clubmusik entstanden, die für Überraschungen sorgt.

Tecno Brega versteckt seine Herkunft nicht, sondern erklärt Brega zum Konzept: Was wir machen, ist billig und simpel. Und genau deshalb sind wir schnell, erfolgreich und innovativ. Brega heißt so viel wie kitschig, genau das, was ein Hipster aus Rio de Janeiro nie sein wollte. Heute erscheint in Deutschland eine erste Compilation mit Tecno Brega, entstanden aus der langjährigen Kooperation zwischen DJs und Mashup-Künstlern aus Brasilien, den USA und Europa.

Im ersten Moment klingt Tecno Brega, als betrete man ein Jugendzimmer aus den neunziger Jahren – Soundscapes alter Computerspiele schlagen einem entgegen. Manchmal fühlt man sich auch in die Dorfdisko zurückversetzt. Tecno Brega feiert, was alles schon da ist, und bedient sich respektlos, aber liebevoll aus den Archiven des globalen Pop.

Verbindendes Element ist ein extrem eingängiger Rhythmus, zu dem auf alle mögliche Arten und Weisen getanzt werden kann. Und dann sind da noch die ungewöhnlichen Produktionsbedingungen, die ökonomische Basis dieser Erfolgsstory aus der brasilianischen Provinz.

Die Musik ist kostenlos

Hauptstadt von Tecno Brega ist Belém im Bundesstaat Pará. An den Wochenenden versammeln sich dort jeweils Zehntausende zu Partys großer Soundsystems, die „Aparelhagem“ heißen. Kein Wunder, denn nur so verdienen die Künstler Geld. Ihre Musik verteilen sie nämlich kostenlos. Straßenhändler vertreiben sie, kopieren, verschicken und verkaufen Tecno Brega im ganzen Norden von Brasilien.

Sind das noch Raubkopierer oder entsteht da eine neue Form von Arbeitsteilung? Ähnlich wie Kuduro in Angola oder Reggeaton in Kolumbien, ist Tecno Brega ein Kind des schwarzen Atlantiks. Seine Wurzeln liegen in der afrikanischen, indianischen und europäischen Musik.

Aber diese Wurzeln erklären noch nicht die spezifische Form und Ästhetik, die Tonlage und das Gefühl, das irgendwo zwischen den Zeitschichten steckt und weder Vergangenheit noch Zukunft ausdrückt. Es geht um unmögliche Beziehungen und Verwandtschaften vor dem Hintergrund von Kolonialismus, Rassismus und der alltäglichen Gewalt der Armut.

Tecno Brega ist in prekären Freiräumen der Armut entstanden, gespeist aus einer Mischung von Verzweiflung und Überzeugung. Die Produzenten scheren sich nicht um Copyrights, und der Staat lässt sie gewähren. Noch. Die Art, wie Altes und Neues verarbeitet wird, schlägt aber auch eine andere Haltung zur Moderne vor, die sich nicht in der puristischen Suche nach dem Neuen oder der nostalgischer Sehnsucht nach dem Alten verliert.

Bewegen wie im Gesellschaftstanz

Allein die Musik ragt hier wie ein Flaggschiff aus der Perspektivlosigkeit. Und tatsächlich hat sie es geschafft, den Kontext zu verlassen, in dem sie entstanden ist. Belém ist von Metropolen wie São Paulo nicht nur geografisch weit entfernt. Über die Nachbarländer Guiana und Surinam ist der karibische Einfluss stärker. Calypso und Cumbia spielen im Tecno Brega ebenso eine Rolle wie die lokalen Varianten dieser alten Tanzmusik, Carimbó und Lundu. Mit „Lambada“ ging das Anfang der Neunziger schon einmal um die Welt.

20 Jahre später tanzen die Leute in Belém do Pará immer noch paarweise zu Tecno Brega. Sie halten sich im Arm und schaukeln die Hüften, drehen sich und verschlingen die Arme, wie früher im Gesellschaftstanz. Swing, Salsa, Carimbó und Lundu, vereint unter dem Dach einer tropischen Form von Techno.

Mit Schlager hat das nichts zu tun. Wer will, geht in die Knie und lässt die Hüften wippen und poppen, wie man es aus Dancehall, Kuduro und dem Stripperdance im US-Westküsten-Stil Krumping kennt. Andere ziehen imaginäre Pfeile auf und schießen sie in die Luft.

Der Eintritt zu den Aparelhagems ist nicht gerade billig, und die Investitionskosten sind gewaltig. Hier wird ordentlich Gerät aufgefahren. Nicht nur der Sound aus riesigen Boxen soll die Menge überwältigen, auch Lightshows, Videowände, DJ-Podeste, die oft wie Raumschiffe gestaltet sind und von lokalen Schreinern gebaut werden.

Shows mit funkendem Schnickschnack

Dazu kommen noch Laser, bengalisches Feuer und andere pyrotechnische Geräte, die massenweise Glitzer und Glamour über das Publikum ausschütten. Zuletzt die Equipes, das sind eigentlich Fans, die sich verrückte Klamotten anziehen, die Gesichter schminken und Choreografien vorbereiten. Während der Party stürmen sie irgendwann das Pult des DJs und verwandeln es in ihre Bühne.

Es heißt oft, DJs seien die Stars der Szene, aber sie haben die Dynamik nicht allein in der Hand. Die Tänzer ziehen ihre eigene Party ab. Ständig entstehen neue Subgenres, aber Zukunft hat nur, was dem Publikum gefällt. Es geht um maximale Selbstaffirmation. Die DJs machen mit, weil das auch für friedliche Veranstaltungen sorgt.

Belém ist wie andere brasilianische Großstädte ein gewalttätiges Pflaster. Dass Tecno Brega bislang nicht im Krieg zwischen Drogengangs und Militärpolizei aufgerieben wird, ist vielleicht der laxen Kommunalpolitik von Belém zu verdanken, mehr noch: Hier geht es um Kontakt mit einer Geschichte, die sich kreuz und quer um den Atlantik schlängelt.

Seit Jahren steht der Bundesstaat Pará im Fokus der Öffentlichkeit, weil dort ein riesiger Staudamm gebaut wird. Vielen Fans der Aparelhagems steht die Verwandtschaft mit den Indígenas, die sich dagegen wehren, ins Gesicht geschrieben. Viele schmücken sich auf den Festen mit Reminiszenzen an diese Kultur.

Konflikte ohne Antwort

Gleichzeitig sind sie Stadtbewohner und auf Elektrizität angewiesen. Vielleicht verhandeln die stummen Gesten Konfliktlagen, auf die es keine einfache Antwort gibt. Das größte Aparelhagem heißt Tupinambá, wie die Indígenas, die vor der Ankunft der Portugiesen hier lebten.

Jetzt platzt diese Musik in die weite Welt und lässt damit auch die künstlerische Enge hinter sich, die das lokale Geschäft zwangsläufig mit sich gebracht hat. Was Tecno Brega an Wünschen, Bildern und Gesten produziert. Dieser Wunsch kann sich nicht allein vor Ort erfüllen.

Ironischerweise ist der erste Superstar des Tecno Brega eine Frau, obwohl die lokale Szene eher von Männern bestimmt wird. Gaby Amarantos verließ vor ein paar Jahren ihre lokale Band und ließ sich als Solokünstlerin von der wachsenden Nachfrage nach Tecno Brega treiben. Sie ist in ihrer brasilianischen Heimat mittlerweile zur Botschafterin von Tecno Brega geworden und füllt ihre Rolle mit extravagantem Stil und feministischem Diskurs. Das ist eher untypisch, aber möglich. Brega eben.

Auf der Compilation ist sie mit einer Interpretation des Bossa-Nova-Klassikers „Aguas de Março“ vertreten, gemixt von João Brasil aus Rio de Janeiro, der schon länger auf Daniel Haaksmanns Berliner Label Man Recordings veröffentlicht. Auf Amarantos selbst müssen wir auf der Tecno-Brega-Nacht im Berliner Haus der Kulturen der Welt leider verzichten. Dafür ist mit DJ Waldo Squash von der Gang do Eletro ein gerade besonders angesagtes Aparelhagem aus Belém vertreten, und Mashup-Spezialist Jõao Brasil ist auch am Start.

Various Artists: „Tecno Brega“ (Man Recordings/Alive)
Live: Am 28. November spielen João Brasil, Banda Uó und Waldo Squash beim Festival Worldtronics im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
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