Theologe Klaus Berger über Luther: „Ich glaube an Gott, nicht an Wunder“

Der Theologe Klaus Berger polarisiert. Er spricht über den ängstlichen Martin Luther und warum nur radikale Positionen die Kirche weiterbringen.

Professor Peter Berger vor einem Bücherregal

Ein Spieler: der Theologe Klaus Berger Foto: Alex Fischer

taz am wochenende: Herr Berger, Sie haben als Theologieprofessor in Ihrer Sprechstunde und bei Vorlesungen ab und zu Handpuppen sprechen lassen.

Klaus Berger: Ich habe zwei Affen, Fips und Jocko. Die sind katholisch – aus der Sicht der anderen Tiere. Und zwei Löwen: Peter und Paul, die sprechen Latein. Meine Frau hat mich schon gewarnt, ich solle Sie nicht mit denen begrüßen, da würden Sie einen Schock bekommen. Ich weiß nicht, wie viel Latein Sie in der Schule hatten.

Neun Jahre.

Na ja. Seit 1948 habe ich eine Puppenbühne, ein Kasperletheater. Außer Löwen, Affen und Krokodil gibt es da natürlich noch einen Petrus und Luther, einen Teufel, eine Großmutter und eine Hexe.

Welchen Sinn hatten diese Figuren in Sprechstunden und Vorlesungen?

Sie stellten den ersten Kontakt her, auf einer animalischen Ebene.

Hat es die Gespräche erleichtert?

Ja, weil das Animalische ja das kleinste Gemeinsame ist.

50, war bis vor Kurzem taz-Redakteur für Religion und Gesellschaft. Dies ist sein Abschiedsgespräch.

Was uns Menschen am Ende verbindet?

Nicht nur uns Menschen verbindet, sondern uns darüber hinaus mit Löwen und Affen.

Beim Kasperletheater ist mir etwas eingefallen, das man auch als ein Spiel von Ihnen betrachten könnte: Man hat Sie für evangelisch gehalten, weil Sie über Jahrzehnte auf einem evangelischen Lehrstuhl gelehrt haben. Dabei haben Sie stets betont, Sie seien immer katholisch geblieben.

Das hat seine Vorgeschichte: Ich bin katholisch getauft worden, wollte katholischer Priester werden, aber durfte nicht, weil ich seit meiner Doktorarbeit in Theologie 1967 als ketzerisch verschrien war. Dabei hatte ich nur geschrieben, dass Jesus Jude war und nicht das Judentum und das Alte Testament zerstören wollte, sondern ein Reformjude war. Das durfte man damals noch nicht sagen.

Der Mensch: 1940 in Hildesheim geboren. Aus erster Ehe hat er zwei Kinder. Heute ist er mit der Übersetzungs­wissenschaftlerin Christiane Nord verheiratet.

Die Laufbahn: Berger war Professor für Neutestamentliche Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Heidelberg. Sein Buch „Jesus“, erschienen 2004, wurde ein Bestseller.

Aber dass Sie als Katholik als scheinbar evangelischer Professor wirkten, haben später manche Ihrer Kollegen als Betrug angesehen.

Ja, natürlich. Ich galt als „Konfessionsbetrüger“.

Wie haben die Kollegen darauf reagiert?

Bis heute hat es die Anzahl der Feinde verdoppelt und der Freunde halbiert.

Warum haben Sie das gemacht? War das für Sie auch nur ein Spiel?

Es war die Rettung meiner Existenz. Nach meiner Habilitation wurde ich nach Holland berufen. An der theologischen Fakultät von Leiden war das völlig egal – und so gehört es sich eigentlich auch. Wenn man inhaltlich gut ist, dann kommt es nicht auf die Konfession an. So war auch die Fakultät zusammengesetzt. Da gab es auch Atheisten, das hat dort niemanden gestört.

1974 erhielten Sie einen Ruf nach Heidelberg an die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität. Wie erging es Ihnen dort?

Schon in Hamburg hat man mir vor der Habilitation gesagt, ich müsse nicht aus der katholischen Kirche austreten, sondern glauben und evangelische Kirchensteuer zahlen. Das reichte. Von Betrug war aus meiner Sicht keine Rede. Andere Leute haben das anders beurteilt – hauptsächlich solche, die keine Ahnung davon haben, dass Exegese eben nicht Dogmatik ist.

Ist Ihnen das Katholische wichtiger als das Evangelische?

Es ist beides da, und in dem einen bin ich vertrauter und zu Hause – und das andere kann ich schätzen und sogar lieben. Zu Luther habe ich ein interessantes Verhältnis. Er war ein erzkonservativer Mensch. Er hat sich gewehrt gegen die Flut der spätmittelalterlichen Neuerungen. Das war sein eigentliches Anliegen. Gegen die Kapitalisierung, Ästhetisierung und die vielfältigen Wiederholungen, von denen man meinte, dass sie fromm seien. Luther war groß in dem, was er liebte, und erbärmlich in dem, wovor er Angst hatte.

Wie die meisten Menschen.

Angst hat Luther oft gehabt, das ist der Schlüssel zu seiner Biografie. Da hat er auch erbärmlich reagiert. Er hatte auch Angst vor dem Papsttum – wie viele katholische Mönche. Etliche von ihnen waren schon Ende des 14. Jahrhunderts der Meinung, der Papst sei der Antichrist.

„Angst hat Luther oft gehabt, das ist der Schlüssel zu seiner Biografie. Er hatte auch Angst vor dem Papsttum“

Sie haben einmal gesagt, die theologische Landschaft in Deutschland sei eine „durchgehende Wüste bis zum letzten Loch“. Es herrsche eine Abwesenheit von „Profil, Diskussion und Spannung“.

Ja, das stimmt. Es gibt keine Autorität, auf die man hören muss. In meiner Jugend waren das die großen Theologen Karl Rahner, Rudolf Bultmann oder Heinz Eduard Tödt in Heidelberg – also profilierte Leute. Und seit 30, 40 Jahren gibt es die nicht mehr.

Damit macht man sich auch keine Freunde, wenn man wohl ein paar Hundert Kollegen sagt: Ihr seid vertrocknet und habt kein Profil.

Ob Freunde machen oder nicht, das ist mir eigentlich egal. Radikales Christentum ist nie mehrheitsfähig. Erhalten ist das vor allem in der koptischen Kirche. Die Kirche dort ist reich, ohne sterile Dogmatik.

Sie kritisieren schon seit Längerem die historisch-kritische Methode, unter anderem die Entmythologisierung, die der evangelische Theologe Rudolf Bultmann gefordert hat. Das ist doch eigentlich ein guter Gedanke, dass man erst einmal versucht, die Bibel mit kalten, wissenschaftlichen Augen zu betrachten. Was stört Sie daran so sehr?

Dass die Texte zerstört werden. Bultmann sagt, eigentlich sei mit dem Wandeln Jesu auf dem Meer gemeint, dass man keine Angst haben soll vor dem Tod. Meine Gegenfrage: Wenn es so war, warum hat das Jesus dann nicht einfacher gesagt? Warum so ein kompliziertes, mirakulöses Schweben auf dem Wasser – völlig wahnsinnig!

Sie glauben auch an Wunder, die im Neuen Testament geschildert werden.

Ich glaube an Gott und nicht an Wunder.

Aber Sie halten die Wunder für historisch möglich?

Wenn man einfach sagt, ich halte sie für historisch möglich, gilt man als Fundamentalist, und das ist eine verbreitete Meinung über mich. Ich bin alles andere als ein Fundamentalist. Ich bin der Meinung, dass die entscheidende Frage die sein muss: Erfassen wir mit der historisch-kritischen Methode die gesamte Wirklichkeit? Oder gibt es Möglichkeiten, ohne das Grunddogma der Kausalität mit Wirklichkeit zu rechnen? Das ist die Voraussetzung für die Rede vom Wunder: Dass es sein kann, dass man mit der Möglichkeit rechnet, dass es Dinge gibt, die nicht durch Kausalität zu erklären sind, wie zum Beispiel erste Liebe.

Wie sieht mystische Wirklichkeit, das Wirken des Heiligen Geistes aus?

Nun, es gibt bestimmte Kriterien. Zu den Kriterien für diese Wirklichkeit gehört: die Auswirkung als Liebe. Wie etwa bei Mutter Teresa.

Gleichzeitig haben ihre Tagebücher gezeigt, wie fern sie sich oft Gott fühlte. Sie hat ja häufig gezweifelt. Das heißt, auch wenn vielleicht der Heilige Geist in ihr gewirkt hat, bedeutet das nicht, dass sie den gespürt hat.

Nein, nein. Das ist ja bei allen großen Leuten so, dass sie die Ferne spüren. Auch bei Martin Luther, auch bei den mittelalterlichen Mystikern. Auch bei Johannes vom Kreuz, der die „dunkle Nacht der Seele“ erfunden hat.

Natürlich kann man sagen: Wenn ich Gott nicht spüre, ist er mir besonders nahe. Aber kann man das einem Atheisten vermitteln?

Zitieren wir mal Martin Luther, der gesagt hat: Drei- oder viermal in meinem Leben konnte ich wirklich vollmundig glauben. Das andere und Normale war das Aushalten der Abwesenheit Gottes. Genauso hat es Karl Rahner gesagt – und genauso erlebt man es, wenn man ehrlich ist, auch als Christ. Gott ist nicht verfügbar.

Sie haben gesprochen von der Dunkelheit, aus der Sie erst nach Jahren hinausgekommen sind. War das eine Erfahrung der Gottesferne?

Ja, die Erfahrung, dass man an all das, was von Gott gesagt wird, nicht glauben kann. Und dass man Vertretern des lieben Gottes begegnet, die das nicht glaubwürdig erzählen können. Nur wenn man Typen begegnet, die das glaubwürdig darstellen, kommt man ein wenig weiter. Ich kann nicht an den lieben Gott glauben, wenn ich nicht an meinen Pfarrer glauben kann.

Sie sind für theologische Vielfalt und gegen Denkverbote, aber gleichzeitig fasziniert vom strengen Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI. Der hat 1985 den Befreiungstheologen Leonardo Boff zu einem Bußschweigen verurteilt – da war Vielfalt nicht willkommen.

Das war falsch. Genau wie in meinem Falle. Ratzinger kann ja auch Fehler machen. Kardinal Müller, den Franziskus vor ein paar Monaten als Präfekt der Glaubenskongregation gefeuert hat, hat seine Freunde in der Befreiungstheologie. Das ist richtig. Das sind Menschen, auf die unbedingt zu hören ist. Weil sie in Europa fremd sind. Und es ist immer ein Stück Fremdheit Gottes.

Auch die Befreiungstheologen haben marxistische Elemente in ihre Theologie integriert. Ein solches Einflechten von Philosophie haben Sie bei Martin Heidegger und Bultmann verurteilt. Ist die Theologie der Befreiung nach Ihrer Logik zu sehr infiziert vom Marxismus?

Irgendwelche Ismen interessieren mich nicht, sondern ob sie den Menschen vor Ort helfen können, Christ zu sein, und das ist bei der Befreiungstheologie weithin der Fall. Der einflussreichste evangelische Vertreter der Befreiungstheologie in Brasilien, Paulo Augusto de Souza Nogueira, hat bei mir über die Offenbarung des Johannes promoviert. Da bin ich ganz stolz drauf. Und ich habe nicht gesagt: Weil Ihre Arbeit marxistische Einflüsse zeigt, ist sie mir unpassend.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Was haben Sie gesagt?

Ich habe gesagt: Wenn Sie die Apokalypse nicht vergewaltigen, dann haben Sie völlig Recht, dass es hier eine Art von Reichtumskritik gibt. Besonders im Kapitel 18, das ist ein wunderschönes Kapitel. Das ist eine Kapitalismus- und Machtkritik, die ihresgleichen sonst im Neuen Testament nicht hat. Da hat er sich anstecken lassen von diesem biblischen Buch.

Wie konkret sieht diese Kapitalismuskritik aus?

Es geht darum, dass Rom die Völker beherrscht und ausgebeutet hat, und zwar mithilfe ihres Handels. Siehe Amerika heute, besonders der Herr Trump. Der sagt: Ich will doch nur Geschäfte machen. Ja, nur Geschäfte – das war auch das Prinzip des Alten Roms. Im Kapitel 18 der Apokalypse wird geschildert, wie all das innerhalb einer Stunde zusammenbricht. Und wie dann die Händler in der Ferne stehen und die Rauchschwaden des verbrannten Roms sehen. Die Händler klagen: Das war doch so herrlich, der Kapitalismus.

Ich würde gern als Letztes, auch angesichts der Apokalypse, zu den letzten Dingen kommen: Haben Sie noch Zweifel an der Existenz Gottes?

Man kann, wenn man Klaus Berger heißt, nicht einfach davon ausgehen, dass dies ein Zentraldogma ist: Es existiert Gott. Eine Afrikanerin hat neulich gesagt: „Glauben ist überhaupt nicht schwer. Man muss einfach nur beten.“

Gehört der Zweifel eigentlich zum Glauben?

Ja. Der Zweifel ist die menschliche Seite des Glaubens.

Sie sind jetzt 77 Jahre alt. Denken Sie oft an den Tod?

Wenn ich begeistert bei einer Sache sein kann, bei einem Text, bei einer Predigt, bei einem Brief, dann denke ich nicht an den Tod. Wenn ich telefoniere, oft mit Freunden, die dem Tod mutmaßlich näher sind als ich, dann denke ich schon daran.

Ist denn das Bewusstsein des Todes auch eine Triebfeder für Ihre erstaunliche Produktivität?

Nein, das unterscheidet mich von Heidegger, bei dem das Vorlaufen zum Tod die eigentliche Triebfeder ist. Was mich inspiriert oder mir die Kraft gibt, ist die bescheidene Hoffnung, das Herz der Menschen zu erreichen. Deshalb habe ich auch gern in der evangelischen Kirche von Langeoog wieder gepredigt, was ich dort wieder durfte.

Was haben Sie gepredigt?

Es geht darum, dass Jesus der Ehebrecherin vergibt, weil sie viel geliebt hat, anstößigerweise. Sie war Prostituierte und hat viel geliebt. Es gibt eine menschliche Sehnsucht, die wir selber nicht heiligsprechen können, sondern die offenbar der liebe Gott in die Hand nimmt und dann verwandelt. Das ist der eigentliche Trost.

Beten Sie um einen sanften Tod?

Das gehört nicht zu meinen Gebeten. Ich bete um ein mutiges Leben. Und dass mir die Zuneigung meiner Frau erhalten bleibt.

Aber an ein Weiterleben nach dem Tod glauben Sie fest?

Das klingt so scheußlich, dass ich sagen muss: Nein!

Und wenn man es etwas sanfter formuliert?

Es gibt bei Heinrich Böll die schöne Formulierung: jenes höhere Wesen, das wir verehren. Das hat er ganz richtig getroffen, dass man nicht abstrakt über die intimsten Ängste und Hoffnungen reden kann. Deshalb: Weiterleben nach dem Tod? Nein!

Gleichzeitig hoffen Sie darauf?

Nein, auch nicht auf ein Weiterleben, sondern ich hoffe schlicht, dass man nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand.

Wie das Margot Käßmann auch gesagt hat.

Ob Frau Käßmann oder nicht – das ist mir ziemlich egal.

Glauben Sie, es gibt eine Form von Paradies?

Die Summe meiner Hoffnungen kann ich gut mit einem Spruch von Karl Rahner zusammenfassen, der in seiner glaubwürdigen Phase gesagt hat: Ich bin Christ, weil ich meine, dass es alles gut endet. Dass eben das Geheimnis, in das wir fallen, nicht gegen uns ist, sondern für uns. Das wäre die Summe. Das Geheimnis ist für uns.

Oder wie Paulus sagt: Dass wir dann nicht mehr durch Spiegel sehen, sondern Auge in Auge.

Ich will nicht bestimmte Wahrheiten sehen, sondern es gibt Dinge, die mir näher liegen als die Summe von Wahrheiten, nämlich: mein Bauch. Ich bin als Herz-Jesu-Sozialist von Grund auf nicht an Theorien interessiert, sondern an dem, was faktisch aus dem Menschen wird. Ich habe das häufig genug erlebt, dass Menschen ihr Leben an Wahnvorstellungen gehängt und vergeudet haben. Aber es ist die Aufgabe der Exegese, Ideologien bei der Auslegung zu entlarven. Wenn die Ideologien stärker werden als der Text, dann sage ich: Man merkt es mal wieder, ihr wolltet mit einer glatten Lösung zurechtkommen. Aber glatte Lösungen kann es nicht geben.

Aber weil Sie den Bauch nennen: Das heißt, Sie glauben an eine leibliche Auferstehung?

Ich glaube nicht an eine leibliche Auferstehung. Sie sind ein schrecklicher Dogmatiker! Ich glaube, dass alles, was wir tun, bedingt ist, und was wir erleben, bedingt sein wird von der Tatsache, dass wir leibhaftige Leben sind. Ich kann doch nicht Seele und Geist trennen vom Leib. Das wäre unkatholisch. Und mein Glaube besteht nicht in einer Summe von Dogmen, sondern dass ich immer und für immer vor Gottes Geheimnis stehe, das weiter und allzeit größer ist als meine Möglichkeiten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.