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Triumph der Retroparteien Machtlose Grüne

In Berlin hat die CDU/SPD-Koalition die Zukunft abgeschafft. Ist das eine klassische Berliner Provinzposse oder ein Menetekel für die Bundesrepublik?

Pressekonferenz von Fridays for Future zur Klima-Bilanz eines halben Jahres der schwarz-roten Koalition picture alliance/dpa

taz FUTURZWEI, 07.11.2023 | Im April 2023 wurde Kai Wegner von einer Koalition aus seiner CDU und der SPD zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Der strahlende Sieger seines Wahlkreises Spandau 5 ist der lebende Ausdruck, dass die vermeintliche Weltmetropole in Wahrheit auch 30 Jahre nach der Wende eine selbstzufriedene Provinzstadt geblieben ist, in der das Festhalten am Status quo das politische Denken bestimmt. Die politischen Eliten hier haben kein Interesse, sich mit den anderen großen Metropolen Europas – Kopenhagen, London, Paris, Barcelona – zu messen, die mit ökologischer Stadterneuerung ihre Innenstädte den Bürgern zurückgeben. In Quartieren oder Blöcken ist dort ohne oder mit stark eingeschränktem Autoverkehr städtisches Leben wieder möglich.

In Berlin dagegen hat es nur wenige Monate gebraucht, bis die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner (CDU) dem Wahlkampfmotto ihrer Partei („Berliner, lass Dir das Auto nicht verbieten“) Beschlüsse folgen lässt. Der 2021 vom Vorgängersenat beschlossene Radwegeverkehrsplan wurde gestoppt. Alle Ausbauprojekte für neue Radwege wurden zur Disposition gestellt. Offizielle Begründung: Der Autoverkehr in der Stadt muss ungehindert fließen. Wie viele bereits geplante Radwege dieser Retropolitik zum Opfer fallen werden, ist nicht überschaubar.

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Schreiner will auf den großen Stadtmagistralen, der Leipziger- und der Martin-Luther-Straße, die Beschränkung auf Tempo 30 wieder aufheben, weil die dadurch verbesserte Luftqualität ja erreicht sei.

Seit 2019 wird am Umbau des Halleschen Ufers zu einer Promenade mit Zugang zum Landwehrkanal gearbeitet. Für den Autoverkehr würden dadurch insgesamt zwei Spuren wegfallen. Das Vorhaben wurde als positives Beispiel in das Bundesprojekt „Nationale Projekte des Städtebaus“ aufgenommen und mit 2,9 Millionen Euro Zuschuss gefördert. Verkehrssenatorin Schreiner verzichtet auf die Mitfinanzierung des Bundes und damit auf das ganze Projekt. Der Autoverkehr in der Stadt habe Priorität.

Die Verkehrwende wird in Berlin im Keim erstickt

Eine klassische Berlin-Provinzposse, könnte man meinen. Oder, dass die Grünen in der Stadt das schon zu verhindern wissen würden. Weit gefehlt. Die Abwicklung des Beginns einer Verkehrswende vollzieht sich weitgehend ungestört. Dabei könnte man erwarten, dass die Grünen diese revisionistische Politik als Steilvorlage für eine aggressive Oppositionspolitik nutzen würden. Aber seit der verlorenen Abgeordnetenhauswahl sind sie aus der Öffentlichkeit verschwunden. Das mag daran liegen, dass die Berlin Medien sie nun einfach nicht mehr zur Kenntnis nehmen oder Landtagsopposition generell kaum Aufmerksamkeit bekommt.

Es liegt aber auch daran, dass die Grünen in Berlin mit dem Mitregieren den Zugang in die Stadtgesellschaft jenseits ihrer allerengsten Klientel verloren haben. Die Grünen sind zwar die stärkste Oppositionspartei im Abgeordnetenhaus, dem Wahlergebnis nach gleichauf mit der mitregierenden SPD, aber für die CDU und ihre Stadtpolitik kein ernsthafter Gegenpol mehr. Statt längst Volkspartei auf Augenhöhe mit CDU und SPD zu sein, sind sie Klientelvertretung ihrer ewigen Parteigänger geblieben. Diese Schwäche der Opposition in der Stadt wird noch verschärft, weil die Linkspartei eben doch die alte PDS geblieben ist, die ihre Klientel im Osten der Stadt biologisch verliert und die AfD auch in Berlin nur den rechten Mob salonfähig macht. Es gibt keine politische Alternative zu CDU und SPD mit ihrer historisch begründeten Verankerung im Bewusstsein der Stadt.

Weil das so ist, können CDU und SPD in ihrer politischen Praxis jedes Denken und Handeln jenseits des Gewohnten unterlassen. Das zeigt sich auch an ihren Bemühungen, die von den Bürgern per Volksentscheid erzwungene Freihaltung des Tempelhofer Feldes von jeglicher Bebauung auszuhebeln. Das zeigt sich in dem Versuch, mit fadenscheinigen Argumenten die ihnen von den Bürgern per Volksentscheid auferlegte Enteignung großer Wohnungsbestände nicht zu vollziehen. Obwohl die, wie mittlerweile geklärt ist, rechtlich möglich wäre.

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Die Welt muss wieder schön werden

Wer Ernst machen will, muss verstehen, warum wir nicht gegen die Klimakrise handeln, obwohl wir alles wissen: Ohne Kulturwandel kein Weltretten.

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Modellcharakter für den Bund?

CDU und SPD haben Zukunft als wirkmächtiges politisches Paradigma für ihr Regieren ausgeblendet. Sie reagieren, verwalten mehr schlecht als recht, pflegen das Vorhandene. Das gelingt, weil es im politischen Raum keine Kraft gibt, die mit wirkmächtigen Bildern eine auf Zukunft ausgerichtete Stadtpolitik erzwingen könnte. Es reicht eben nicht mehr, wenn sich die Berliner Grünen in ihrem Selbstbild einfach auf der richtigen Seite der Geschichte verorten. Es braucht für ein erfolgreiches Opponieren ein Gesamtbild, eine Idee von einer Zukunft Berlins, mit der ermutigende neue Lebenshorizonte eröffnet würden – und zwar für alle oder sehr viele. Dazu braucht es Bündnisse, die weit über die eigene Klientel hinausreichen. Dazu sind die Grünen in der Stadt nicht in der Lage.

Das Beunruhigende an der Berliner Konstellation ist ihr potentieller Modellcharakter für den Bund. Nach der nächsten Bundestagswahl könnten die Grünen sich als kleinere Oppositionspartei hinter der AfD wiederfinden (und die FDP in der APO), während auch hier Union und SPD koalieren. Das aktuelle Berliner Zukunftsverweigerungsdrama könnte sich dann im Bund wiederholen, und dann auch hier mehr oder weniger ungestört. Dann ginge es allerdings um weit mehr als um die Rückabwicklung einer zumindest im Ansatz ökologischen Verkehrswende in Berlin. Dann ginge es um die Rückabwicklung der mit Erfolg eingeleiteten Wirtschafts- und Klimapolitik.

Eine solche CDU/SPD-Retrorepublik könnten die Grünen nur verhindern, wenn sie mindestens so stark wie CDU und SPD würden, so dass das Regieren ohne sie unmöglich wäre. Die von Vizekanzler Habeck erreichte Öffnung der Partei hin zur Wirtschaft und den Gewerkschaften, die Öffnung der Grünen gegenüber einer durchaus auch abschreckenden Migrations- und Asylpolitik und das uneingeschränkte Eintreten für die freiheitliche universalistischen Prinzipien westlichen Denkens könnten dann Gestaltungsräume für weitergehende ökologische Transformationspolitik eröffnen. Ziehen sich die Grünen aber auch mehrheitlich in die selbstbezogene Nische zurück, in der es sich die Berliner Grünen gemütlich gemacht haben, dann wird die Zukunft in der Bundesrepublik CDU/SPD-geführt abgeschafft.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für das Magazin taz FUTURZWEI.