US-Frauen gegen „Rape Culture“: Alles andere als okay

Millionen Frauen twittern Übergriffe von Onkeln, Ärzten, Nachbarn und Schulkameraden. Und über den verharmlosenden Umgang damit.

Frauen und Männer demonstrieren

Slut Walk: „No means No!“ Foto: dpa

NEW YORK taz | Zwei Stunden nachdem das Video mit Donald Trumps Prahlereien über seine sexuellen Übergriffe auf Frauen bekannt wurde, setzte eine junge Kanadierin in Los Angeles einen Tweet ab. „Frauen“, schrieb Kelly Oxford, „schickt mir eure ersten Übergriffe. Ich mache den Anfang: Ein alter Mann im Bus fasst mir an die Muschi und lächelt mich an. Ich bin 12.“ Bis zum Dienstagabend hat der Hashtag #NotOk mehr als 27 Millionen Tweets generiert.

Es sind Leidensgeschichten auf 140 Zeichen Länge, die Schlaglichter auf die Geschlechterbeziehungen und auf die Banalität von sexueller Gewalt in den USA erlauben. Die SchreiberInnen – die meisten von ihnen Frauen – schildern Übergriffe, die sie als Acht-, Vierzehn- oder Achtzehnjährige und im Erwachsenenalter erlitten haben. Es geht um erzwungene Küsse, um Begrabschen und um Vergewaltigung. Die Täter sind Onkel, Babysitter, Musiklehrer, Ärzte und gleichaltrige Jungen.

Nach eigenen Aussagen haben manche Userinnen nie zuvor über die Tat gesprochen. Manche fühlten sich selbst schuldig – „die Polizei sagte, Schönheit und Alkohol zusammen sei gefährlich“, schreibt ein Vergewaltigungsopfer. Ein anderes: „Man sagte mir, ich hätte eben nicht nachts allein auf die Straße gehen sollen.“ Andere erfuhren solche Angriffe so häufig, dass sie es für normal hielten – die ungewollten Küsse von einem fremden Mann, die sie als 13-Jährige bekam, erschienen einer Frau als „klein im Verhältnis zu dem, was viele andere erlebt haben“.

In den vier Tagen, die seit Beginn ihrer Initiative vergangen sind, hat Kelly Oxford noch drei weitere sexuelle Belästigungen aus ihrem eigenen Leben beigesteuert. Die im kanadischen Alberta geborene 39-Jährige ist eine viel gelesene und kommentierte Bloggerin. Auf Twitter (@kellyoxford) hat sie mehr als 700.000 FollowerInnen. Doch sie habe keine Ahnung gehabt, dass sie mit ihrem Tweet vom Freitagabend eine Massenbewegung in den sozialen Netzen auslösen würde, twitterte sie. Statt der mehreren dutzend Reaktionen, die sie erwartet hatte, liefen zeitweilig mehr als 50 Tweets pro Minute bei ihr ein.

Vergewaltigungs- und Mordserie

Es ist nicht das erste Mal, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen zu einem Sturm in den sozialen Medien führt. Vor zwei Jahren hatten zwei andere Kanadierinnen unter dem Hashtag #BeenRapedNeverReported (wurde vergewaltigt, habe es nie gemeldet) zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Damals war die Serie von nicht aufgeklärten Vergewaltigungen und Morden an Frauen der First Nations in Kanada Anlass.

Auch in Deutschland gab es 2013 unter dem Hashtag #Aufschrei eine Debatte über sexuelle Übergriffe. Und immer wieder reagieren Frauen mit „Slut Walks“ (Schlampen-Demos) auf die verbreitete Meinung, Frauen seien häufig selbst schuld, wenn sie sexuell belästigt würden, weil sie etwa aufreizende Kleidung trügen oder flirteten. Doch nie zuvor war die schiere Menge der Reaktionen so überwältigend.

Sexuelle Angriffe bis hin zu Vergewaltigungen haben auch in den USA eine enorm hohe Dunkelziffer

Das Video aus dem Bus, das 2005 aufgezeichnet und am vergangenen Freitag geleakt worden ist, zeigt einen 59-jährigen Trump auf dem Weg zu einem Fernsehstudio, der damit prahlt, dass er Frauen gegen ihren Willen küsst, sie an der „Muschi“ packt, und behauptet, dass er dank seiner Berühmtheit „jede“ haben könne. „Trump hat uns in Alarmbereitschaft versetzt“, schreibt eine Frau: „Er löst Ängste aus sowie posttraumatischen Stress“.

Sexuelle Angriffe bis hin zu Vergewaltigungen gehören auch in den USA zu den Gewalttaten mit der höchsten Dunkelziffer. Das hat die 1964 geschaffene Bundesbehörde für gleiche Behandlung (EEOC) mit mehr als 50 Büros im Land nicht geändert, an die sich Frauen und andere Opfer von Diskriminierungen wenden können.

Zu dem Klima, das für die hohe Zahl von nie gemeldeten Übergriffen sorgt, gehört neben den zögerlichen Ermittlungen und der Scham für viele Frauen auch die Vergewaltigungskultur. Sexuelle Gewalt ist – auch Jahrzehnte nachdem Feministinnen den Begriff „Rape Culture“ geprägt haben – ein fester Bestandteil in allen Teilen der Gesellschaft geblieben.

Trivialisierung als „Umkleideraumgerede“

Nachdem das Video aus dem Bus veröffentlicht war und für Empörung an vielen Orten sorgte, hat der republikanische Präsidentschaftskandidat Trump sein eigenes Verhalten als „Lockerroom Blant“, Umkleideraumgerede, bezeichnet und versucht, sich damit herauszureden, dass die Szene elf Jahre zurückliege.

Doch seine Personalpolitik im Wahlkampf zeigt, wie unsensibel er bis heute für das Thema geblieben ist. So heuerte er erst vor wenigen Wochen den bisherigen Chef des rechten TV-Senders Fox News Roger Ailes als Berater an, nachdem der von seinem Sender entlassen worden war, weil mehrere Frauen ihm massive sexuelle Belästigung vorwarfen.

Sind sexuelle Übergriffe der Normalfall? Wir baten unsere KollegInnen, von ihrem Heimweg zu berichten – und erhielten sehr viele Antworten.

Wir rufen Sie dazu auf, uns Ihre Geschichte zu erzählen, falls Sie Ähnliches erlebt haben. Schreiben Sie an: heimweg@taz.de. Die zuständigen Redakteurinnen Waltraud Schwab und Steffi Unsleber behandeln Ihre Mails vertraulich. Auf dem taz-blog Der Heimweg veröffentlichen wir die Berichte. Natürlich nur, wenn Sie der Veröffentlichung zustimmen.

Seit Bekanntwerden des Videos aus dem Bus haben sich auch mehrere Spitzensportler gegen die „Umkleideraum“-Banalisierung verwehrt. “So etwas habe ich noch nie gehört“, sagte der Basketballspieler J. C. McCollum von den Portland Trail Blazers. Auch der Basketballer Brett Anderson verteidigte die Ehre des Umkleideraums. Andere Männer nutzen den Hashtag #NotOkay, um zu geloben, dass sie nie wieder untätig am Rand stehen wollen.

Die Bloggerin, die den millionenfachen Twittersturm über sexuelle Gewalt in den USA angestoßen hat, sagt, ihre Initiative habe nichts mit den Präsidentschaftswahlen zu tun. „Es geht nicht um ihn“, erklärt sie, „es geht um uns.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.