Überwachung durch Funkzellenabfrage: Alle, ausnahmslos, zehn Mal im Jahr

Millionenfach werden Handydaten von Unschuldigen gespeichert, um Verbrechern auf die Spur zu kommen. Ist das verhältnismäßig?

Frau zieht Telefon wie einen Hund an der Leine hinter sich her

Jeder zieht seine Daten hinter sich her. Ob und wann sie abgefragt werden dürfen, ist eine andere Sache Foto: Timmzie / photocase.de

BERLIN taz | Einer der schillerndsten Kriminalfälle Berlins in den vergangenen Jahren hat kürzlich sein Ende gefunden. Für den Mord an Jochen Stecker, einem stadtbekannten Inhaber eines Nobelclubs, wurden zwei Männer vom Strafgericht Moabit zu lebenslanger Haft verurteilt. Stecker war am 5. März 2013 tot in seiner Wohnung aufgefunden worden, erstochen in seiner Badewanne. Auf die Spur der Täter waren die Ermittlungsbehörden durch eine Funkzellenabfrage gekommen.

Zwar leugneten zunächst beide, in der Wohnung oder auch nur in der Nähe des Tatorts gewesen zu sein, doch die Funkzellenabfragen ergaben: Die Mobiltelefone von beiden waren dort. Die so in Bedrängnis gebrachten Verdächtigen belasteten sich im Gerichtsprozess schließlich gegenseitig. Bei seiner Urteilsverkündung dankte der Vorsitzende Richter den Beamten des Landeskriminalamtes für ihre „ausgezeichnete Ermittlungsarbeit“.

Der Fall Stecker gehört zu jenen Erfolgsmeldungen, auf die Behörden gern verweisen, um die Notwenigkeit von Funkzellenabfragen zu rechtfertigen. Still und heimlich hat sich die Maßnahme zu einem bundesweit massenhaft eingesetzten Ermittlungsinstrument entwickelt, nahezu ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt – oder nehmen kann. Denn verlässliche Statistiken über den Einsatz existieren kaum, zudem bleiben viele Frage, etwa zu Erfolgsquoten oder der Verhältnismäßigkeit, unbeantwortet.

Was gespeichert wird

Eine Funkzellenabfrage richten die Ermittler an die Netzbetreiber. Dabei fragen sie die Telekommunikationsverbindungsdaten ab, die in einem bestimmten Zeitraum im Bereich eines Mobilfunkmastes angefallen sind. Man speichert:

– die Nummern aller Handys im Umfeld des Sendemastes;

– welche anderen Anschlüsse mit diesem Handy angerufen wurden, ab wann und bis wann;

– an wen SMS geschickt wurden und von wem welche kamen;

– wie groß eine übertragene Datenmenge war.

Nur die Inhalte der Kommunikation werden nicht erfasst.

Düsseldorf: Allein im Stadtgebiet der Landeshauptstadt am Rhein gab es von April 2014 bis April 2015 laut NRW-Landesregierung genau 146 Funkzellabfragen (FZA), 144 durch die örtliche Polizei, zwei durch das Landeskriminalamt. Geht man davon aus, dass wie im Saarland pro Abfrage gut 42.000 Datensätze gespeichert werden, kamen so insgesamt 6,1 Millionen zusammen. Von jedem der 600.000 Düsseldorfer wurden somit in diesem einen Jahr im Schnitt mehr als zehnmal Daten durch die Polizei kontrolliert.

Schleswig-Holstein: Auf die gleiche Art lässt sich aus den 569 Funkzellenabfragen, die es laut der dortigen Landesregierung im Jahr 2104 gab, errechnen, dass jeder der 2,8 Millionen Bewohner dieses Bundeslandes etwa 8,5-mal betroffen war.

Bundesweit: Netzpolitik.org schätzte bereits 2014, dass es in ganz Deutschland täglich 50 FZA gibt. Rechnet man das hoch, kommt man zum Ergebnis, dass jeder Inländer jedes Jahr im Schnitt rund 9,5-mal in den Ermittlungsakten landet.

Berlin: Der Funkzellenbericht des Berliner Senats für das Jahr 2014 lässt offen, wie viele Datensätze pro Abfrage oder insgesamt erhoben wurden. Im Bericht für das Jahr 2013 hieß es jedoch, dass in 305 Verfahren 50 Millionen Datensätze gespeichert wurden – zwei Drittel davon in einem einzigen Fall. Jeder der 3,5 Millionen Berliner geriet somit im Schnitt sogar über 14-mal in eine Kontrolle.

Die Funkzellen reichen in ihrem Durchmesser von etwa 100 Metern in Innenstädten bis zu mehreren Kilometern in ländlichen Gebieten. Betroffen sind alle Mobilfunkteilnehmer einer Zelle, manchmal nur einige Dutzend, meistens aber viele Tausend. Bis 2008 durften die Ermittlungsbehörden nur die Standorte ihnen bereits bekannter Telefonnummern abfragen, seitdem dürfen sie alle speichern. Die Straftätersuche verläuft über wiederkehrende Muster. Handybesitzer, die etwa bei mehreren Einbrüchen in der Nähe eingeloggt waren, machen sich verdächtig.

Ein statistischer Überblick über die bundesweite Datensammelei fehlt. Die Behörden mauern. Zahlen gibt es nur nach parlamentarischen Anfragen auf Länderebene, so etwa in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Sachsen, vielfach liegen diese jedoch zwei, drei Jahre zurück, meistens sind sie wenig detailliert.

500 Funkzellenabfragen in 2014

Einen Schritt weiter wollte das Berliner Abgeordnetenhaus gehen. Auf Initiative der Piraten hat es beschlossen, dass die Landesregierung nun jährlich berichten muss. Das erste Ergebnis liegt seit Ende Juli vor, es wird den Anforderungen jedoch nicht gerecht. Mitgeteilt wurde den Parlamentariern lediglich, dass im Jahr 2014 in 500 Fällen Funkzellenabfragen angeordnet wurden, ein neuer Rekord. In den Jahren zuvor waren es nur je gut 300. Wie viele Datensätze aber insgesamt erfasst oder wie viele Handybesitzer identifiziert wurden, verschweigt der Bericht.

Diese Verweigerung bezeichnet Christopher Lauer, Abgeordneter der Piratenfraktion, als eine „kleine Staatskrise“. Er fragt: „Wie soll auf diese Weise eine parlamentarische Kontrolle von Überwachungsmaßnahmen stattfinden?“

„Wer ein Medikament zulassen möchte, muss erst die Wirksamkeit belegen, bei der Sicherheitspolitik ist es andersherum“ Christopher Lauer, Piratenpartei

Einen aktuellen Hinweis, wie viele Daten die Polizei pro Abfrage gewinnt, liefert eine Anfrage des Piraten Michael Hilberer im Saarland. Innerhalb eines Jahres – beginnend im September 2013 – wurden laut Antwort der dortigen Landesregierung 175 Funkzellenabfragen durchgeführt und dabei fast 7,5 Millionen Datensätze übermittelt – im Durchschnitt also gut 42.000 pro Abfrage.

Die Experten vom Blog Netzpolitik.org schätzen die Zahl der Abfragen bundesweit auf etwa 50 pro Tag. Legt man die Datensatzzahl des Saarlandes zugrunde, würde das heißen, dass jeder in Deutschland Lebende durchschnittlich 9,5-mal im Jahr mit einer Handyaktivität erfasst wird; 9,5-mal, die jeder potenziell einer Straftat verdächtigt wird. In Städten wie Düsseldorf und Berlin sogar noch öfter (siehe Rechnung).

Nie zuvor hat die Suche nach Straftätern so systematisch sämtliche Bürger des Landes betroffen.

Piraten wollen mehr Transparenz

Kenntnis erlangen die Bürger davon höchstens, wenn die Behörden zu ihren Handydaten auch die sogenannten Bestandsdaten, also ihren Namen und die Anschrift, anfordern. Die Informationspflicht ist in der Strafprozessordnung festgeschrieben. In Berlin hat das Abgeordnetenhaus gefordert, die Transparenz zu erhöhen und alle Mobilfunkbesitzer per SMS über die Übermittlung ihrer Mobilfunkdaten zu informieren. Doch von einer Umsetzung sind die Behörden weit entfernt.

Von öffentlicher Empörung über die Maßnahme ist wenig zu hören, dennoch gibt es Kritiker. So spricht der Deutsche Anwaltsverein von einem „verdachtslosen Grundrechtseingriff mit großer Streubreite“. Unmut kommt auch aus den Reihen von Linkspartei und FDP, die beide fordern, die Maßnahme auf den Prüfstand zu stellen. Vor allem aber die Piraten lehnen die Maßnahme entschieden ab. Absurd seien bereits die Annahmen, die der Maßnahme zugrunde liegen, sagt Christopher Lauer. So wird davon ausgegangen, dass Täter stets ein Handy mit einer auf ihren Namen registrierten SIM-Karte mit sich führen. „Das ist Quatsch“, sagt er.

Wie unbescholtene Bürger durch Funkzellenabfragen in Verdacht geraten, zeigt ein Mordfall in München. Dort wurde Domenico L. im Mai 2013 an der Isar erstochen. Mehr als eine halbe Millionen Datensätze erhob die Polizei bei verschiedenen Funkzellenabfragen und ermittelte 7.400 verdächtige Handybesitzer. Jeden Einzelnen suchte sie persönlich auf. Einen Täter hat die Polizei jedoch bis heute nicht ermitteln können.

Oder der Fall Christian Leye. Er war Mitarbeiter der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen, als nach einem Protest gegen Neonazis 2011 in Dresden seine Personalien aufgenommen wurden. Die Staatsanwaltschaft ermittelte dann gegen ihn wegen Behinderung einer angemeldeten Demonstration. Wie die taz bereits im Juni 2011 berichtete, fanden sich in seiner Ermittlungsakte 15 Handyverbindungen, versehen mit der genauen Ortsangabe und den Namen der Personen, mit denen er Kontakt hatte. Ein exaktes Bewegungsprofil.

Bisher noch kein Nachweis der Wirksamkeit

Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass Funkzellenabfragen nur bei Verdacht einer schweren Straftat gerechtfertigt sind, deren Aufklärung ansonsten aussichtslos oder erheblich erschwert wäre. Zudem ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unerlässlich, die einbezieht, wie viele Personen von der Maßnahme betroffen sind.

Im vergangenen Jahr wurde allerdings kein einziger Antrag der Berliner Staatsanwaltschaft auf Funkzellenabfrage von einem Richter abgelehnt. Berlins Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) sieht das anscheinend als Freifahrtschein und sagt über die Abfragen: „Meiner Meinung nach sollten sie nicht reduziert, sondern ausgeweitet werden.“ Konkret schwebt ihm vor, sie auch bei Straftaten wie Einbrüchen und Autodiebstählen anzuwenden. Dafür sehe er „keinen Bedarf,“ sagte Berlins Datenschutzbeauftragter Alexander Dix der taz.

Ein Nachweis der Wirksamkeit der Maßnahme wurde bislang noch nirgends erbracht. „Wer ein neues Medikament zulassen möchte, muss die Wirksamkeit belegen, bei der Sicherheitspolitik ist es andersherum“, sagt Lauer. Argumentiert werde mit Einzelbeispielen: „Wir hätten Mörder nicht gefasst, die jetzt noch frei herumlaufen würden“, sagt Heilmann.

Lauer hält entgegen, die Beweise seien „anekdotischer Natur“. Immer würden zwei, drei spektakuläre Fälle herangezogen, doch die meisten Anfragen blieben ergebnislos und seien deshalb Zeit- und Ressourcenverschwendung.

Auch die Mörder von Jochen Stecker wären aller Wahrscheinlichkeit nach ohne die Überwachungsmaßnahme gefasst worden. Die Aufklärungsquote solcher Taten ist traditionell hoch. Am höchsten war sie in Berlin mit 97 Prozent im Jahr 2006 – zwei Jahre vor Beginn der Funkzellenabfragen.

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