Unpädagogisch: Gemetzel für Kinder

Die Staatsoper Hannover hat ein Stück für Kinder konzipiert. Doch bei Moby Dick wird die Ermordung des Wals groß inszeniert

Wal in Sicht: Die Schiffscrew auf der Bühne der Staatsoper Hannover wird ihn erlegen Foto: Jakob Schnetz

HANNOVER taz | Hinaus aufs Meer der eigenen Träume. Als Süßigkeiten verkleidet liegen Meeresfrüchte und Goldschatztaler auf den Bistrotischen des Ballhofs in Hannover, garniert mit blauen Luftballons und weißen Papierschiffchen. Eine anheimelnde Tarnung. Denn die Kindersparte des Musiktheaters will sich nicht als pädagogische Operngrundschule anbiedern, sondern Menschen ab zehn Jahren mit einer Uraufführung die Ohren öffnen.

Es gilt, den Hörnachwuchs zu fordern. Klanglich und inhaltlich. Der junge Komponist Mischa Tangian wurde beauftragt, mit neuer Musik auf einen alten Stoff zu reagieren: Herman Melvilles „Moby Dick“. Ein 700-seitiger Wälzer voller scharfzüngig-essayistischer Ausflüge in naturwissenschaftliche wie philosophische Richtungen sollte zur Abenteuergeschichte skelettiert, zeitgemäß interpretiert und dabei sollte nichts beschönigt werden.

Kapitän Ahabs Hass-Feldzug gegen den weißen Wal, der ihn einst zum Krüppel machte, ist ja kein Kampf des modernen Menschen gegen das Naturchaos, das es zu ordnen gilt, um es zu beherrschen. Der Riesensäuger verkörpert nicht mehr als Leviathan das Böse wie noch bei Jesaja in der Bibel. Ein Pottwal ist definitiv kein Menschenfresser und Killer nur aus Notwehr. Er hat inzwischen als Kuscheltier der Ökobewegung Karriere gemacht, vom Aussterben bedroht ist seine Art.

Kommerzieller Walfang findet aber weiterhin statt – trotz eines weltweiten Moratoriums. Der Mensch, nicht mehr die Natur, gilt ja als die zerstörerische Kraft der Geschichte. Aber all diese Bedeutungswandel wird erst einmal ignoriert von Regisseurin Friederike Karig. Und konventionell durchgestartet.

Denk ich an Seefahrtsmusik – denk ich an Shantys. Tatsächlich kommt das achtköpfige Ensemble mit einem solchen Lied auf die Bühne. Dabei verfällt das Staatsorchester ins Stottern, die Sänger stottern mit – und finden zu einem saftig prallen Belcantoton. Tangian setzt in Sachen blutdurstiger Besessenheit weniger auf den vokalen Overkill, mehr bändigend auf ausschwingende Melodien. Die so kraftvoll intoniert werden, dass das Libretto meist unverständlich bleibt. Keine Übertitelungsanlage hilft. Was Verdi-Vergötterer bei der Aufführung einer Verdi-Schmonzette locker verknusen, ist Kindern nicht zuzumuten. Die wollen verstehen, was da klingend spricht.

Dank feiner Hörbuchstimme und schöner Bühnenpräsenz ist allerdings gut den Ausführungen Lukas Benjamin Engels zu folgen. Er gibt großäugig einen Strahlejungen als Identifikationsfigur. Das Greenhorn. Der Erzähler Ismael. Die Sehnsucht nach wild aufgepeitschtem Meer beschwärmt er, fabuliert von der großen weiten analogen Welt. Er verkündet pure Abenteuerlust als Grund, warum er hier in einem schlicht gezimmerten Schiffsrumpf auf Walfang geht. Auch eingecheckt hat ein Freak mit Sarg als Gepäck – damit der Erzähler zum Katastrophenfinale ein Rettungsboot bekommt zum Überleben. Sonst könnte er ja auch jetzt nicht schon mal rückblickend berichten.

Wenn Käpt’n Ahab erstmals auftritt, grollt eine heißblütig abstrakte Klangcollage: Cluster und Dissonanzen, die als Mittel starker Expression sowie sich entladender Spannungen funktionieren und so auf die durcheinandergewürfelte Gruppendynamik der Männercrew verweisen, die erstmal Essen will.

Eine Wal-Sichtung! Aufregungsmusik braust los, als benötige die Szene einen Soundtrack

Im Orchestergraben wird auf Kochtöpfen perkussioniert, auf der Bühne der Sarg zum Schlaginstrument. Dann mäandern Tonfolgen durch die Ruhe vor dem Sturm. Die Atmosphäre von Weite, Gefahr, Ausgesetztsein klingt nach Urlaub. Tonalität des Wartens. Ganz sanft schweben Walgesänge vorbei.

Plötzlich: eine Wal-Sichtung! Kein weißer, nur irgendein Wal. Aber Aufregungsmusik braust los – als benötige die Szene einen Filmsoundtrack. Zu einem Bassmotiv klatschen sich die Matrosen Mut zu wie die Ghetto-Gangs der „West Side Story“ – und wollen nun unbedingt Musical-Anmutung.

Sie beginnen zu tanzen. Oder genauer: präsentieren choreografierte Positionswechsel. Ein Jazz-Bigband-Bläsersatz hebt an, „heute ist Zahltag“, ist zu hören. Der geschlachtete Wal wird die Kombüsenmenüs bereichern, das Öl und all die anderen Rohstoffe sollen reichlich Gewinn an Land abwerfen. Aber durch die Kapillaren des Klangs fließt auch Gift – diese Erregung, gleich kämpfen, töten zu dürfen. Wenn schließlich die Harpune den Meeressäuger trifft – haut der Schlagzeuger auf sein Instrument.

Inszeniert wird das Morden als Angeln im großen Stil. Ein Akkordeonspieler illustriert die letzten Pulsschläge des Tieres. Der Wal wird in Gestalt einer großen Plastikfolie aus dem Bühnenboden gezogen, Schiffsjunge Pip schneidet sich ein Steak aus der Leiche. „Blutig und zäh“, sagt er.

Zu munden scheint es nicht. Das Fleisch muss ihm hineingezwungen werden – als wäre er Vegetarier. Die etwas älteren Kinder an Bord spielen nun Ritualkunst – und sauen sich gegenseitig mit Blut ein. Woraufhin man Tiefsee mit Tiefsinn kurzschließt: „Macht euch die die Erde untertan“, wird als Moral der Szene verkündet – kaum verständlich.

Die Musik bleibt hingegen prima verständlich. Obertonreiches Meeresrauschen, durchsetzt von aufschäumenden Zittertönen der Violine. Wie Mannschaft und Chef zueinander stehen, ist per gospeligem Call-and-Response-Chor dargestellt. Ein metallisches E-Gitarrenriff animiert Ahab, eine neue Harpunenklinge zu schmieden. Als Showdown-Verzögerung komponiert Tangian noch schnell einen Taifun, durcheinander stürmende Noten naturgemäß. Abgelöst von wogendem Geflirre, weil Elmsfeuer funkeln: Discolicht im Kunsteisnebel. Wohin führt der Exkurs?

„40 Jahre Krieg, wozu das alles?“, singt der einsame Kapitän, verliert sich in Erinnerungen an Frau und Kinder. Das Publikum soll wohl den chronisch abwesenden Vater in ihm erkennen. Sein Beruf – seine Berufung. Und im Kampf mit dem Wal seinen Lebenssinn findend. Den Tod. Dazu schwerblütiges Klanggemetzel. Bis der Erzähler das Geschehen zusammenfasst: Gier, Hass, Gottlosigkeit, Rache der Natur – sind so seine Worte. Noch pathetischer wird’s, da die inzwischen ertrunkene Crew als Chor aus der Ferne gluckert und himmlisch hallt.

Der Roman ist auf Pixibuch-Format geschrumpft, der aktuelle Diskurs wird verweigert, dafür reichlich Fischerlatein und Moraldeutsch hineingepumpt. Die Partitur ist beherrscht von einem expressiven Duktus. In den Momenten des Entsetzens wütet die Hybris des Menschen offen im Aufruhr der Musik.

Aber das dissonant Zerklüftete und harmonisch Befriedete kommen einander auch immer wieder nahe. Ohne eine eigene Klangrede zu entwickeln, feiert Tangian so eine große Bandbreite musiktheatraler Mittel. Von Erwachsenen wird er dafür umjubelt. Was wohl Viertklässler dazu sagen?

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