Unterwegs in Berlin: Länder ohne Landesgrenzen

Was sagen die Menschen zwei Monate vor der Bundestagswahl? Auf Stimmenfang in Berlin-Kreuzberg.

Rastet und beobachtet das Treiben am Moritzplatz: André (50), Ur-Berliner Bild: Burhan Yassin

Die taz.meinland-Redakteure Burhan Yassin und Lion Häbler waren unterwegs auf Berlins Straßen. Zwischen Moritzplatz und Kottbusser Tor - direkt auf der Straße, auf Plätzen in Parknähe und an Bushaltestellen - fragten sie nach, was Heimat, Herkunft und Land den Menschen bedeuten.

taz: Was verstehen Sie unter dem Begriff „meinland“?

Andre: Mein Land, nun, das ist das Land, wo ich zufällig geboren wurde. Ich würde es auch nicht als „mein Land“ bezeichnen. Ich besitze das Land nicht und befürworte generell das Konzept Besitz nicht so. Ich bin kein Patriot oder Nationalist. Von daher kann ich damit nicht so viel anfangen.

Was nervt Sie am meisten an Deutschland?

Das System, insbesondere der Kapitalismus, der Ungleichheit fördert. Und teilweise auch die Änderung im Kommunikationsverhalten der Leute. Früher hatte man noch Hoffnung, dass sich was ändern würde, aber heute sehe ich das nicht mehr.

Was genau meinen Sie mit Kommunikationsverhalten?

Durch moderne Medien ändert sich das Kommunikationsverhalten und jeder sucht sich seine eigene Wahrheit raus. Dabei bleibt man in seiner eigenen Blase, in der man seine eigene Meinung bestätigt bekommt. Man will keine anderen Meinungen mehr hören und ist auch nicht mehr offen für andere Sachen.

Annika (31) aus Frankfurt a. M. kam gerade aus einer Ausstellung über den Wandel Kreuzbergs Bild: Lion Häbler

Was bedeutet für Sie „meinland“? Woran denken Sie dabei?

Annika: Ich assoziiere das zum einen mit nationalistischen Einstellungen. Zum anderen aber auch damit, dass Menschen sich positiv auf eine Art von Heimat beziehen. Aber ja, ich bin in Deutschland geboren.

Bin ich auch „deutsch“?

Das weiß ich nicht.

Wie weiß man das dann?

Naja, wenn man es nach Nationalität beurteilt, dann müsstest du mir deinen Pass zeigen, dann kann ich dir sagen, was da drinnen steht. Und bei mir steht da „deutsch“.

Wenn man jetzt den deutschen Pass hat, aber nicht in die Gesellschaft integriert ist, würden Sie so jemanden auch als „deutsch“ bezeichnen?

Ich finde das total schwierig. Ich würde nicht sagen, dass Deutschland „mein“ Land ist. Aber das würde ich auch über kein anderes Land der Welt sagen. Ich fände es einfach gut, wenn es gar keine Staatsgrenzen mehr gäbe.

Was nervt Sie an Deutschland?

Bürokratie, Nationalismus, Rechtspopulismus, Kleinbürgertum, steigende Mieten, in der Wohnungspolitik könnte man sicher ganz viel machen. Ich war gerade in einer Ausstellung über die Geschichte der Wohnungsnot und Hausbesetzungen in Kreuzberg. Auch an der Asylgesetzbegung und der Situation von Geflüchteten könnte man viel machen, was z.B. die Freizügigkeit und Mobilität, auch innerhalb Deutschlands, angeht. Es gibt also viele Bereiche, in denen ich einfach mehr Umverteilung erwarten würde, durch eine Reichensteuer. Oder Hilfe für die Drogenszene, die auch hier am Kottbusser Tor ja teilweise immer noch sichtbar ist.

Und was würden Sie als erstes ändern, wenn Sie Kanzlerin wären?

Das kann ich eben konkret nicht sagen. Ich glaube auch nicht, dass eine SPD – nicht mal eine LINKE – an der Regierung meine Vorstellungen umsetzen könnte.

Und Sie selbst?

Ich selbst eben auch nicht, in dieser Position, auf reformistischer Ebene. Das, was ich umsetzen würde, wäre auch alles erstmal nur ein Anfang.

Ali (50) wurde von taz-Redakteur Burhan Yassin auf arabisch angesprochen. Er antwortet auf Deutsch Bild: Lion Häbler

Was stört Sie am meisten an Ihrem Leben hier?

Ali: Ich bin seit 30 Jahren in Berlin, und ich bekomme keine Wohnung. Ich wohne seit vier Jahren in einem Hostel. Wenn ich eine neue Wihnung finden will, muss ich allein schon 4000 Euro Provision zahlen. Aber hier macht keiner was dagegen. Weder Hilfsorganisationen noch Politiker. Da kann ich doch nur sauer werden.

Wie war es, als Sie nach Deutschland gekommen sind?

Das Grundgesetz wird nicht mehr geachtet. Meine Grundrechte als freier Bürger gelten nicht mehr. Vor 30 Jahren, als ich aus dem Libanon nach Deutschland geflohen bin, da wurde ich von den Behörden und der Polizei noch anders behandelt. Nach dem 11. September 2001 hat sich alles geändert. Die Regierung handelt anders gegenüber Ausländern und Bürgern, die eine andere Hautfarbe haben.

Woran liegt das?

An der Situation mit denen, die jetzt hierher kommen. Ja, ich war damals selbst ein Flüchtling. Wenn jemand vor Krieg oder vor bestimmten Politikern Schutz sucht, das kann ich respektieren. Aber heute ist das oft anders. Und da muss man dann Antworten darauf geben, dass Arbeit und Wohnungen knapp werden.

Wenn Sie Bundeskanzler wären, was würden Sie als allererstes ändern?

Deutschland darf nicht das einzige Land sein, das die gesamte Masse an Flüchtlingen aufnimmt. Wenn wir uns als Europäische Union empfinden, dann müsste es da auch eine faire Verteilung der Lasten geben.

Tayfur (20) saß mit seinem TV-Equipment wartend am Straßenrand Bild: Burhan Yassin

Was bedeutet „meinland“ für Sie?

Tayfur: Herkunft, Zuflucht und vor allem Identifikation. Mein Land ist der Ort, an dem ich mich wohl und sicher fühle, an dem ich sicher bin, dass das Leben, das ich hier führen kann, das Leben ist, das ich gerne hätte.

Ist das in Deutschland so? Oder wie sähe Ihr Traumland aus?

Als Kind wollte ich immer nach Amerika. Je älter man aber wird, je realistischer man denkt, desto mehr wird einem aber klar, dass Deutschland das beste Land ist - zumindest innerhalb meiner persönlichen Erreichbarkeit. Wir sind hier sicher, haben Struktur, keiner muss Angst haben. Das ist viel Wert.

Was nervt an Deutschland?

Die Bürokratie. Alles dauert unheimlich lang, bis es in die Gänge kommt: Egal ob es um den Bafög-Antrag geht, um den Abzug von Soldaten aus anderen Ländern, oder um Gesetzesverabschiedungen.

Bośko (41) und Tanja (39) sind aus Serbien zu Gast. Urlaub in Berlin Bild: Burhan Yassin

Was fühlen Sie, wenn Sie „meinland“ hören?

Tanja: Interessante Frage. Ich fühle im Endeffekt gar nichts. Ich denke eigentlich, dass wir alle überall sein können müssten. Dass der ganze Planet nur ein einziges Land sein sollte. Ich sehe das so wie Alejandro Jodorowsky (Anm.: u.a. Theaterregisseur, Begründer des Panic Movements), der aus Chile nach Russland kam, dann zurück nach Chile und dann nach Frankreich. Als er gefragt wurde, was seine Heimat sei, sagte er: ich bin von überall. Und so habe auch nicht das Gefühl , dass ich irgendwo speziell hingehören würde.

Seit wann sind Sie in Berlin?

Wir sind erst seit drei Tagen hier und bleiben noch vier weitere. Wir sind Tourist*innen aus Serbien. 

Gibt es schon etwas, das Sie nervt, an Deutschland, oder Berlin?

Tanja: Nein, eigentlich nichts. Hier ist alles perfekt. Die Infrastruktur funktioniert, die Preise sind auch okay. Alle erzählten uns, es wäre hier noch teurer als in Moskau, wo wir letztes Jahr waren. Nun gut, in einer Kneipe am Alexanderplatz kostet ein Bier fünf Euro. Das war krass.

Bosko: ...aber das ist überall so, an den Sightseeing-Spots. In anderen Kneipen in anderen Vierteln haben wir für fünf Euro fünf Bier bekommen.

(Das Gespräch fand auf Englisch statt)

Robert (20, Student) weiß mit „seinem" Land wenig anzufangen Bild: Burhan Yassin

Wie sähe das Land Ihrer Träume aus?

Robert: Das gibt es nicht. Ich wüsste nicht, wie ich mir das vorstellen sollte. Das wäre eine Utopie, aber wie sie aussehen würde, kann ich auch nicht sagen.

Was nervt Sie in Deutschland am meisten?

Die Saturiertheit, von uns allen... naja, von den meisten. Im Sinne von Geld, Macht, Gemütlichkeit und Gleichgültigkeit im Alltag. Was mich auch sehr aufregt: Bayern. Wenn sich dort Menschen vom Rest der Republik abspalten wollen. Ich kann damit nichts anfangen, wenn sich Leute nicht für andere Leute interessieren, oder ihren eigenen Erlebnishorizont so einschränken wollen, es begrenzen auf ihr eigenes kleines Terroritorium.

Was würden Sie machen, wenn Sie Bundeskanzler wären?

Ich glaube, da müsste man tiefer strukturell etwas ändern. Es gibt diesen schönen Satz: „Wenn ich Bundeskanzler wäre, dann würde ich als erstes mich selbst abschaffen“. Das trifft es glaub ich am besten. (Burhan Yassin hatte daraufhin noch gezieltere Fragen)

Sie sind ja Deutscher. Bin ich auch „deutsch“?

Naja, Sie stehen ja hier vor mir. Wohnen Sie hier?

Ja, ich lebe seit zwei Jahren in Deutschland.

Ich finde, die Frage sollten Sie dann selbst beantworten, ob Sie deutsch sind. Das ist ja eben eine Entscheidung. Das sieht man von außen nicht. Wenn Sie mir sagen, dass Sie deutsch sind, dann habe ich das zu akzeptieren.

Kann ich denn jetzt, nach zwei Jahren, schon sagen: „Deutschland ist mein Land“?

Ich für mich selbst würde das nicht sagen, dass Deutschland mein Land ist. Ich kann also mit dem Satz an sich schon mal nichts anfangen. Wie das für Sie ist, müssen Sie selber wissen. Woher kommen Sie denn?

Ich bin Palästinenser aus dem Libanon.

Wie haben Sie denn Ihr Land definiert, bevor Sie nach Deutschland gekommen sind?

Dort gibt es Konflikt, hier gibt es Sicherheit. Deswegen bin ich auch hierher gekommen. Jetzt fühle ich gerade, dass Deutschland mein Land ist, unser Land. Akzeptieren Sie das?

Ja, natürlich. Aber ich wünsche mir das eher so, dass ich morgen woanders hin gehen könnte auf der Welt, und dort sagen könnte: „Das ist jetzt mein Land“. Eine Art von Grenze gibt es immer, aber Nationalität im Sinne von Abschottung und Feindlichkeit gegenüber anderen sollten wir verwerfen. Ich wünsche mir, dass global ein Miteinander entsteht, unabhängig von Nationalitäten.

Die Interviews führten LION HÄBLER und BURHAN YASSIN.