Utopische Szenarien: Wollen wir wetten?

Der Schrifsteller Leif Randt entwirft eine Maschinenregierung. Was wird im Moment aus dieser Utopie?

Bild: Serge Kutuzov

Im Jahr 48 der neuen Zeitrechnung organisiert der Computer ActualSanity zur allgemeinen Zufriedenheit das menschliche Zusammenleben. Das ist Science-Fiction. Aber auch ein US-amerikanischer Ökonom hat sich ein Regierungssystem ausgedacht, das ohne menschliches Staatsoberhaupt auskommt. Ein Blick in eine vom Netzwerk regierte Demokratie.

Die Utopie

von Leif Randt

Mit der Einführung von ActualSanity, kurz AS, hat für die Planetengemeinschaft die Neue Zeit begonnen. Das Computersystem umsorgt die Bewohner der sechs Planeten, indem es die Rahmenbedingungen ihres Lebens definiert. ActualSanity bezieht dabei sowohl physische Fakten (Verkaufszahlen, Krankheitsfälle) als auch psychologische Chiffren (Ängste, Wünsche, Zufriedenheitstendenzen) in ihre Entscheidungsfindung mit ein. Die Methoden zur Berechnung dieser Chiffren werden durch AS ständig aktualisiert.

Ihre Erstversion, das Original, schwebt seit jeher auf einem eigenen Shuttle, das über eine Brücke an den TÜRKISFARBENEN MOND* angedockt ist. Aktuell (stand 48 n. AS) sind Backups dieser Version auf den Planeten BLOSSOM*, SNOOP* und CROMIT* vorhanden. Die Arbeiten an zwei weiteren Backups auf den Planeten BLINK* und SEGA* schreiten rasch voran.

Das Computersystem entscheidet

Die AS (umgangssprachlich wird häufig ein Artikel vor die Abkürzung AS gesetzt) verfügt über 79 Prozent der im Sonnensystem vorhandenen Finanzmittel, die sie nach den Maßgaben einer planetengemeinschaftlich akzeptierten Fairness verteilt. ActualSanity finanziert den Städtebau sowie das Transport- und Gesundheitswesen, zudem unterstützt sie Kollektive und gemeinnützige Einrichtungen. Die übrigen 21 Prozent der Finanzmittel kreisen zwischen den Teilnehmern der neuzeitlichen Bonuseconomy, die vorwiegend aus Einzelhandel (Delikatess- und Substanzshops, Boutiquen etc.) und Dienstleistungsgewerbe (Taxiunternehmen, Stylistensalons, Restaurants etc.) besteht.

Die Ingenieure der ersten AS-Version befinden sich heute nicht mehr im Sonnensystem. Der letzte von ihnen, Doktorin Josefin Hazelwood, hat das Sonnensystem 46 n. AS infolge eines Shuttleunglücks im Alter von siebenundneunzig Jahren verlassen. Sie hatte bis zum Tage des Unglücks an der Entwicklung neuer AS-Systemeinheiten mitgewirkt. Die Instandhaltung der aktuellen Einheiten obliegt wechselnden Teams, die von der AS ausgewählt werden.

Obgleich es bis heute insbesondere innerhalb traditionsreicher Kollektive oft zu Diskussionen über die neuesten Entscheidungen der AS kommt, kann das generelle Vertrauen in ActualSanity als stetig wachsend beschrieben werden.

Quelle: Leif Randt: Planet Magnon. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017, S. 277 f.

Darstellung eines römischen Auguren bei der Datenerhebung: Dieser ergründete den Götterwillen, indem er ihn aus dem Flug und dem Geschrei der Vögel und anderer Tiere las. Bild: Ridpath's Universal History

Was aus der Utopie wird

von Zoë Herlinger

Der pessimistische Tenor des politischen Realismus lautet: Menschen haben Interessen, Interessen konkurrieren und Konkurrenz bedeutet Ungleichheit. In einem Staat, der von Menschen regiert wird, sind Machtgefälle folglich unvermeidlich. Besonders vertrackt ist das für egalitäre utopische Gesellschaftsentwürfe: Wer hat in diesen idealen, konfliktfreien Welten eigentlich das Sagen?

In Zeiten von Metadatenanalyse und beinahe prophetischen Algorithmen scheint es gar nicht mehr so abwegig, das Regieren an einen Automaten zu delegieren. Leif Randts gewaltfreie Planetengemeinschaft wird von solch einer unbestechlichen Maschine regiert. Manche ihrer Entscheidungen mögen den Bewohnern merkwürdig vorkommen, dennoch zahlt sich das Ausschalten des menschlichen Einzelinteresses aus: Das Vertrauen in ActualSanity steigt stetig. Doch wie erhebt der Rechner die physischen Fakten und psychologischen Chiffren eines ganzen Sonnensystems?

Eine mögliche Antwort darauf gibt die »Futarchie«, eine Regierungsform, die sich der Ökonom Robin Hanson Anfang des Jahrtausends ausgedacht hat. Hinter deren Motto »Wähle Werte, wette auf Überzeugungen« steht Folgendes: Gewählte Repräsentanten einigen sich auf erstrebenswerte, messbare Ziele. Anschließend wird eine Art Wettbörse darauf eröffnet, ob eine konkrete Maßnahme diesem Zweck dient oder nicht. Je nachdem, welche Antwort zu »Handelsschluss« den höheren Kurs erzielt hat, wird der Vorschlag zum Gesetz oder nicht.

Politik als Gegenstand gewinnbringender Spekulationen

»Spekulanten« mit einer besonders fundierten Meinung zum Thema haben einen Anreiz, früh und günstig Anteile zu erwerben. Sie erzielen Gewinne, wenn sie vom Markt, durch eine Mischung aus Technokratie und Schwarmintelligenz, bestätigt werden. Im Idealfall wird dadurch Expertenwissen finanziell belohnt und Gesetze werden in eine nutzbringende Richtung korrigiert; impulsive Stimmungsmacher, die ihre Meinung auf keine faktische Basis stützen, verlieren Geld und dadurch auch die Möglichkeit, unqualifiziert weiter zu spekulieren.

Das Bild einer maschinengesteuerten Regierung ist ein wenig trügerisch, da es nicht darum geht, Gesetze von einer zentralen künstlichen Intelligenz schreiben zu lassen. Vielmehr verspricht die Futarchie eine besonders neutrale und zuverlässige Informationsbeschaffung. Denn wo sie bereits existieren, treffen derartige Prognosemärkte, wie das »Polit-Wettbüro« PredictIt, extrem akkurate Vorhersagen. An diesen, meint Hanson, und nicht an ihren eigenen Meinungen, sollten sich die politischen Entscheidungsträger orientieren. In diesem Sinne geht es ihm sehr wohl darum, das Regieren zu »entmenschlichen« und von persönlichen Machtinteressen zu entkoppeln – das Netzwerk ersetzt das Staatsoberhaupt.

Das Regieren von persönlichen Machtinteressen entkoppeln

Selbst wenn man glauben möchte, dass profitorientierte Spekulanten selbst den Strick verkaufen würden, an dem man sie aufknüpft, steht und fällt die Futarchie mit den »Werten«, die wie bisher gewählt werden. Ob zum Beispiel Robin Hansons eigene Orientierung an Bruttoinlandsprodukt und Wirtschaftswachstum die Welt zu einem faireren Ort machen würden, sei dahingestellt.

Apropos aufknüpfen: Ein besonders morbider Nebeneffekt der Prognosemärkte machte im vergangenen Sommer anlässlich der Einführung von »Augur« die Runde. Diese bislang einzige vollständig dezentrale Prognoseplattform kann auch dafür benutzt werden, anonyme Auftragsmorde zu vergeben: Gewettet wird, ob eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt noch am Leben ist. Kaufen genügend Leute Ja-Anteile, kann ein potenzieller Assassine auf die nun sehr billige Nein-Quote setzen und nach Ausführung die hohe Gewinnsumme einstreichen.

Beschränkt sich die Futarchie also auf ein krypto-anarchistisches Spiel mit dem Feuer auf der Basis marktwirtschaftlicher Theorie? Allzu bald wird sich die Wettdemokratie wohl nicht durchsetzen. Aber wer weiß, vielleicht kommt es irgendwann doch dazu, dass Wähler ihr Vertrauen lieber der Neutralität eines Systems schenken als der moralischen Integrität ihrer Mitmenschen.

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