Verfassungsänderung in der Türkei: „Totalitärer Angriff“ aufs Parlament?

Geht es nach dem Willen der Regierungspartei AKP, verlieren bald 138 Abgeordnete ihre Immunität. Dies würde vor allem die prokurdische HDP schädigen.

Der türkische Präsident Erdogan steht an einem Pult und redet.

Er mag die HDP nicht: Erdogan Foto: ap

ISTANBUL dpa | Mehr als einem Viertel der 550 Abgeordneten im türkischen Parlament droht der Immunitätsverlust. Eine entsprechende Verfassungsänderung hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP auf den Weg gebracht, obwohl auch Abgeordnete aus ihren Reihen betroffen sind.

Am Dienstag stimmte in einer ersten Abstimmung eine Mehrheit der Abgeordneten für die Aufhebung. Am Freitag ist die entscheidende Abstimmungsrunde geplant. Was steckt hinter dem hoch umstrittenen Schritt, der schon wüste Prügeleien im Parlament ausgelöst hat – und welche Konsequenzen könnte er haben?

Wer wäre betroffen? Insgesamt liegen nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu 667 Anträge auf Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten vor. Die Mandatsträger werden verdächtigt, Straftaten begangen zu haben. Betroffen sind 27 Parlamentarier der AKP, 51 der Mitte-Links-Partei CHP, 50 der pro-kurdischen HDP und neun der ultrarechten MHP sowie eine parteilose Abgeordnete.

Geht es also gegen potenzielle Straftäter in allen Parteien? Pro forma ja. Am schwersten wäre aber die pro-kurdische HDP von dem Vorstoß betroffen, für den die Regierungspartei AKP verantwortlich zeichnet: 50 der 59 Abgeordneten in der Fraktion soll die Immunität entzogen werden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte explizit dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben.

Um welche Anschuldigungen geht es? Gegen die HDP-Parlamentarier werden die schwersten Vorwürfe erhoben: Sie werden vor allem beschuldigt, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu unterstützen oder ihr sogar anzugehören. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich weniger schweren Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt. Erdogan hält die HDP für das Sprachrohr und den verlängerten Arm der PKK im Parlament.

Ist eine Verfassungsänderung ein ungewöhnlicher Weg?Ja, das ist ein Kunstgriff der AKP. Normalerweise müsste die Aufhebung der Immunität jedes betroffenen Abgeordneten in langwierigen Einzelverfahren beschlossen werden. Die AKP wählt nun eine Abkürzung: Durch eine vorübergehende Verfassungsänderung soll einmalig die Immunität all jener Abgeordneten aufgehoben werden, gegen die entsprechende Anträge eingebracht wurden. Die HDP hält diesen Weg für verfassungswidrig und hat angekündigt, notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.

Wie kann das Parlament die Verfassung ändern?Für die Verfassungsänderung ist bei der für Freitag geplanten entscheidenden Abstimmungsrunde eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig. Kommt diese nicht zustande, würde für ein alternatives Referendum eine 60-Prozent-Mehrheit ausreichen, wofür der AKP 13 Stimmen fehlen. In der Verfassungskommission haben aber bis auf die HDP alle Parteien dafür gestimmt, den Entwurf ins Plenum einzubringen. Die HDP hofft bei der geheimen Abstimmung nun auf Abweichler auch in den Reihen der AKP.

Was passiert, wenn die Immunität aufgehoben wird?Dann kann die Staatsanwaltschaft gegen die Abgeordneten ermitteln. Die HDP befürchtet, dass Parlamentarier aus ihren Reihen in Untersuchungshaft genommen werden. Die Partei warnt vor einem „neuen totalitären Angriff“ auf die parlamentarische Demokratie, der Erdogan „monopolartigen Zugriff“ auf die Legislative ermöglichen würde. Die HDP befürchtet außerdem neue Unruhen in den Kurdengebieten, sollte sie mehrheitlich aus dem Parlament gedrängt werden.

Verlieren die Parlamentarier ihren Sitz? Zumindest nicht sofort. Bis zu einer letztinstanzlichen Verurteilung bleiben sie Abgeordnete. Dann allerdings können sie ihr Mandat verlieren. Nachrücker gibt es in der Türkei nicht, das heißt, auch die Partei verliert den Sitz. Sollten mindestens fünf Prozent der Sitze frei werden, was 28 Abgeordneten entspricht, muss nach der Verfassung in diesen Wahlbezirken nachgewählt werden.

Wer profitiert von Nachwahlen? Die HDP verdächtigt die AKP, bei solchen Nachwahlen die zur 60-Prozent-Mehrheit fehlenden 13 Sitze dazugewinnen zu wollen. Damit könnte die AKP das von Erdogan angestrebte Referendum für ein Präsidialsystem in die Wege leiten. Die AKP verweist dagegen darauf, dass sie auch bei Nachwahlen kaum Chancen auf Sitze in den Kurdenhochburgen hätte. Geschwächt wäre die HDP aber in jedem Fall – zumal auch ihrem Vorsitzenden Selahattin Demirtas der Verlust der Immunität droht. Er ist der charismatischste Gegner Erdogans.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.