Vor der Wahl in Brasilien: Verfeindete Lager

Die einen schwärmen für Jair Bolsonaro, der Ordnung verspricht. Die anderen setzen auf die Arbeiterpartei. Die Präsidentenwahl spaltet Brasilien.

Marktsstraße mit vielen Fußgängern

Von der Gewalt heimgesucht: das Zentrum von Belford Roxo, einer Vorstadt von Rio Foto: Alberto Veiga

BELFORD ROXO taz | Trotz stickiger Hitze herrscht geschäftiges Treiben im Zentrum von Belford Roxo. Es ist Samstagvormittag, für viele der beste Moment, Einkäufe zu erledigen. Von Wahlkampf keine Spur. Nur die Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) hat einen Werbestand aufgestellt, mit einem großen Sonnenschirm für den einsamen Wahlkämpfer im roten T-Shirt. Der Mann wirbt mit dem Konterfei von Lula, dem ehemaligen Präsidenten, der wegen Korruption hinter Gittern sitzt und bei der für Sonntag anstehenden Präsidentschaftswahl gar nicht kandidieren darf. Kaum jemand bleibt an dem Stand stehen.

Renata Mantuan nutzt den sonnigen Tag für einen Familienausflug. Mit ihren drei Kindern begleitet sie ihren Ehemann, der zu einer Kundgebung seines Kandidaten unterwegs ist. Der Ehemann ist glühender Anhänger von Jair Bolsonaro, dem Shootingstar der brasilianischen Politik. Der ehemalige Fallschirmspringer liegt in den Umfragen vorne. Er spricht abfällig über Schwarze, geißelt Homosexuelle als ein Problem für christliche Familien und plädiert für niedrigere Löhne für Frauen. Zu der Kundgebung kann Bolsonaro nicht kommen, weil er vor drei Wochen bei einer Messerattacke verletzt wurde. Der Angriff hat seine Beliebtheit noch beflügelt.

Die ganze Familie Mantuan trägt Bolsonaro-T-Shirts, gespickt mit runden Aufklebern. Darauf steht die Nummer 177 für Flávio Bolsonaro, einen Sohn von Jair, der für den Senat kandidiert. 17777 steht für den auserwählten Abgeordneten. Die 17 ist der Code ihres Präsidentschaftskandidaten.

„Ich werde Bolsonaro wählen, weil er für einen Wechsel steht, weil Brasilien Veränderung braucht“, sagt Renata Mantuan lächelnd. Ihr 16-jähriger Sohn ebenfalls, ihre 15-jährige Tochter dürfe noch nicht wählen, sei aber auch Bolsonaro-Fan, „obwohl sie etwas mehr links denkt. Wir reden zu Hause viel über Politik und jeder hat seine eigene Meinung, das ist uns sehr wichtig.“

Wer 16 Jahre alt ist, darf in Brasilien an den Wahlen teilnehmen. Ab 18 Jahren herrscht Wahlpflicht. Wer nicht wählen geht, muss eine Strafe von bis zu 100 Euro bezahlen. Dennoch liegt die Wahlbeteiligung nur um die 80 Prozent.

Renata Mantuan hält familiäre Werte hoch

„Mir ist wichtig, dass in unserer Gesellschaft die Familie wieder aufgewertet wird. Dies ist lange vernachlässigt worden. Kinder sollen nicht in der Schule beeinflusst werden, sie sollen Respekt vor ihren Eltern haben“, argumentiert Renata Mantuan. Sie bezieht sich dabei auf die von religiösen Kreisen ins Leben gerufene Kampagne „Escola sem partido“, Schule ohne Partei, die früheren Linksregierungen vorwirft, ihre politischen Ideen in den Lehrstoff einzuschleusen.

Renata Mantuan

„Ohne Sicherheit sind wir wie Gefangene im eigenen Heim. Deswegen muss der Wechsel her“

„Die Dekonstruktion der Familie muss gestoppt werden“, betont Renata Mantuan noch einmal. Ähnlich wichtig ist ihr das Thema Sicherheit. „Ständig gibt es Überfälle. Meine Kinder können nicht mehr mit Handys oder Kopfhörern auf der Straße gehen, an vielen Orten ist es einfach zu gefährlich.“ Bolsonaro, so meint sie, habe die richtigen Vorschläge. „Mit harter Hand gegen Kriminelle vorgehen, mehr Polizei auf der Straße und Verurteilungen wie Strafen wirklich anwenden.“ Auch sein Versprechen, die Bewaffnung der Bürger zu erleichtern, findet die 35-jährige Mutter gut. Und ein anderer Umgang mit Menschenrechten sei notwendig. Bolsonaro wiederholt gerne, dass nur ein toter Bandit ein guter Bandit sei, und dass Linke von Menschenrechten reden, um Kriminelle zu schützen.

„Ohne Sicherheit sind wir wie Gefangene im eigenen Heim. Manchmal trauen wird uns nicht, abends mit dem Auto zu fahren. Deswegen muss der Wechsel her.“ Renata Mantuan spricht eindringlich. Sie trägt enge Jeans und das weite Bolsonaro-T-Shirt. Ihre dunklen Haare sind streng zurückgekämmt. Sie lebt in Nova Iguaçu, einer nur wenige Kilometer entfernten Vorstadt. Vor Kurzem habe sie mit einem Studium der Sozialarbeit begonnen. „Seit ich erwachsen war, habe ich meine Kinder großgezogen. Jetzt gibt es Luft, mich mehr um mich selbst zu kümmern.“

„Bolsonaro weder frauenfeindlich noch rassistisch“

An der Fakultät sei sie politisch eine Ausnahme, die Mitstudierenden seien eher links eingestellt, sagt Renata Mantuan. Den Kandidaten Bolsonaro hält sie nicht für rechtsextrem. Er werde oft ganz falsch dargestellt. „Ich habe mir viele Videos seiner Reden angeschaut und bin mir sicher, dass er weder frauenfeindlich noch rassistisch ist.“ Vieles, was er sage, werde aus dem Kontext gerissen. Er habe auch nichts gegen Schwule. „Sexuelle Selbstbestimmung ist mir sehr wichtig. Aber es ist auch nicht richtig, sich in der Öffentlichkeit zu küssen, weder für Heteros noch für Homosexuelle“, sagt Renata und blickt auf ihre ältere Tochter mit ihren dunkelrot gefärbten Haaren.

Früher waren Renata Mantuan und ihr Mann einmal Anhänger der linken PT gewesen. Seinerzeit haben sie auch für Lula gestimmt. Heute sind sie enttäuscht von der Bilanz der 14 Jahre Regierung unter der Arbeiterpartei. Schon bei den Massendemonstrationen für die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff, die 2016 ihres Amts enthoben wurde, waren sie dabei. „Brasilien braucht jetzt eine konservative Regierung, die alles wieder ins Lot bringt. Und wenn Bolsonaro seine Versprechen nicht hält, jagen wir ihn wieder aus dem Amt, wie wir es mit Dilma Rousseff getan haben.“

Eine Brasilianische Familie

Familie Mantuan Foto: Alberto Veiga

Die Vorstadt Belford Roxo liegt gut 20 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Die Region ist ein endloses Meer von Häusern, Werkhallen und Industrieanlagen, durch das sich die breiten Ausfallstraßen der Metropole ziehen. Es herrscht viel Armut. Gewalt und Kriminalität macht den Menschen zu schaffen. In Rio zu wohnen, können sich die meisten nicht leisten. Viele Menschen pendeln deshalb jeden Tag in ratternden Vorortzügen oder überfüllten Bussen zur Arbeit in die Millionenstadt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Von der halben Million Menschen, die in Belford Roxo leben, gelten zwei Drittel als arm.

Nicht einmal die kleine Fußgängerzone ist hier vollständig gepflastert. Der aufgewirbelte Staub mischt sich mit dem Rauch von improvisierten Imbissbuden am Straßenrand. Es gibt Hot Dog und Grillspieße, die auch gerne selbstironisch „Churrasco de gato“, also Katzenfleisch vom Grill genannt werden. Gleich daneben werden Kleidung und allerlei Plastikwaren zu Billigpreisen wie auf einem Flohmarkt feilgeboten. Fast alles, was hier verkauft wird, kommt aus China.

Keylla dos Santos: „Ich werde Haddad wählen“

Neben einem Brillenverkäufer steht Keylla dos Santos. Ein Freund von ihr verteilt Flyer der Arbeiterpartei PT, sie selbst hat sich kleine rote Buttons auf die Oberarme geklebt. Die runden Aufkleber sehen wie selbstgemacht aus, sie zeigen das Gesicht von Lula da Silva aus Jugendzeiten mit der Forderung „Lula Livre – Freiheit für Lula“.

„Ich werde Haddad wählen“, sagt Keylla dos Santos bestimmt. Haddad oder den Kandidaten von Lula? „Nun ja, den Kandidaten von Lula natürlich. Haddad kenne ich gar nicht richtig, aber er ist schon der Richtige, wenn Lula ihn ins Rennen schickt.“

Keylla dos Santos

„Bolsonaro will den Leuten mehr Waffen geben. Dann wird es noch mehr Morde geben“

Fernando Haddad steht erst seit wenigen Wochen auf der Kandidatenliste, als klar wurde, das alle Einsprüche gegen das Kandidaturverbot von Luiz Inácio Lula da Silva aussichtslos waren und die PT Gefahr lief, von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen zu werden. Er war Bürgermeister von São Paulo und zuvor Bildungsminister. An die 40 Prozent Zustimmung, die Lula noch im August hatte, kommt Haddad nicht heran. Doch immerhin steht er hinter Bolsonaro auf dem zweiten Platz.

Keylla dos Santos geht davon aus, dass Haddad und der zu zwölf Jahren Haft verurteilte Lula „im Endeffekt gemeinsam regieren werden“. Lula sei doch überhaupt nicht so schlecht, wie immer behauptet werde, sagt sie. „Unter seiner Regierung ging es Brasilien gut. Erst in den letzten Jahren ging es bergab.“

Lula bleibt populär, auch wenn er in Haft sitzt

Nach wie vor ist Lula äußerst populär, vor allem in ärmeren Schichten. Während seiner zwei Amtszeiten von 2003 bis 2010 brachte er zahlreiche Sozialprogramme auf den Weg, schaffte Millionen sozialversicherte Jobs und ermöglichte vielen Brasilianern den Weg aus bitterer Armut.

Auch wenn die Reichen keine Einbußen unter seiner sozialdemokratischen Politik erlitten, ist Lula bei vielen von ihnen zutiefst verhasst. Ein riesiger Korruptionsskandal, in den fast alle Parteien verwickelt sind, weitete sich unter der Regierung der Arbeiterpartei noch aus. Kaum ein Brasilianer zweifelt daran, dass bis auf wenige Ausnahmen die gesamte politische Klasse darin verwickelt ist. Während die meisten konservativen Politiker aber bislang ungeschoren davongekommen sind, wurde Lula aufgrund von Korruptionsvorwürfen zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die Beweislage für die Verurteilung ist jedoch sehr dünn. Er selbst nennt sein Verfahren einen politischen Prozess, der in Gang gesetzt worden sei, um seine Rückkehr an die Macht zu verhindern.

„Was auf keinen Fall passieren darf, ist, dass Bolsonaro an die Macht kommt. Er hat gesagt, er will die Löhne der Frauen senken. Und die Sozialhilfe Bolsa Familia will er abschaffen. Viele hier sind auf diese Unterstützung angewiesen.“ Keylla dos Santos redet sich in Fahrt. „Was er will, ist doch völlig absurd. Die Reichen sollen weniger Steuern zahlen und die Armen mehr! Schon heute reicht unser Geld nicht, um alle Rechnungen zu bezahlen.“

Eigentlich sei Belford Roxo eine Hochburg der Arbeiterpartei, sagt Keylla dos Santos. „Doch diesmal ist es anders. Ich höre von so vielen Leuten, dass sie Bolsonaro wählen werden. Er ist sehr stark hier, es macht Angst.“

Die Erstwählerin versteht die Rechts-Wähler nicht

Die 17-jährige Schülerin findet nicht die richtigen Worte. „Ehrlich gesagt, ich verstehe es nicht. Ich rede mit den Leuten, aber sie sind total dickköpfig. Es wirkt wie eine Gehirnwäsche. Sie sind von Bolsonaro vollkommen überzeugt und lassen kein Argument an sich heran. Sie wollen ihn, nur ihn ganz persönlich als Präsidenten haben. Dabei will er den Leuten noch mehr Waffen geben und dann wird es doch nur noch mehr Morde geben. Ich verstehe es nicht.“

Keylla dos Santos ist nachdenklich, wirkt aber nicht pessimistisch. Sie legt Wert auf ihr Äußeres, hat gestylte Augenbrauen und mag große, auffällige Ohrringe. Sie trägt Jeans und ein enganliegendes Top, das ihre dunkle Hautfarbe betont. Ihre Schule liegt in einer Área de risco, einem Risikogebiet. „Immer wieder fällt der Unterricht aus, weil geschossen wird. Du siehst schwerbewaffnete Typen auf der Straße, und niemand tut etwas. Es wird gerade rapide schlimmer.“

Ein Fenster ihres Klassenraums ist kaputt, seit eine Kugel hineinflog. In ihrem Stadtviertel sei fast die ganze Nachbarschaft auf Sozialhilfe angewiesen – außer den wenigen, die einen festen Job haben. Ihre Eltern hätten schon immer die Arbeiterpartei gewählt, sagt Keylla dos Santos, und gibt gerne zu, von ihnen beeinflusst worden zu sein. Ihr Freundeskreis sei eindeutig links, sagt sie, aber nicht politisch aktiv. „Wo ich wohne, ist das zu gefährlich. Nur hier im Stadtzentrum ist es halbwegs sicher, und du kannst offen deine Meinung sagen.“

Für Keylla dos Santos wird es ihre erste Präsidentschaftswahl sein. „Früher hat mich Politik nicht interessiert, das ist ‚deren Problem‘, dachte ich mir immer. Jetzt ist das anders, denn meine Stimme zählt.“ Sie habe aber den Eindruck, dass dies keine normale Wahl sei, sondern eine Art Zweikampf zwischen der Arbeiterpartei und dem Kandidaten Bolsonaro, auch wenn die wahrscheinliche Stichwahl erst Ende Oktober stattfinden wird. „Ich weiß von den anderen Kandidaten, aber über die redet niemand.“

Keylla dos Santos hat überhaupt kein Verständnis dafür, dass diese in den Umfragen abgeschlagenen Politiker Bolsonaro mit Haddad oder der PT auf eine Stufe stellen. Wie Renata Mantuan möchte auch sie einen Wechsel, aber kein Abenteuer in Richtung rechts. Sie sagt: „Ich hoffe, dass es uns allen mit der Arbeiterpartei wieder besser gehen wird. So wie früher. Oder vielleicht sogar ein wenig besser als früher, das wäre dringend notwendig.“

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