Vorstoß gegen „Rasse“ im Grundgesetz: Warum die Grünen falsch liegen

Die Grünen fordern das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen und zu ersetzen. Doch die Folgen dieses Vorschlags wären fatal.

Zwei Frauen bei der Black-Lives-Matter-Demonstration am 27. Juni in Berlin

Gegen rassistische Denkweisen: Black-Lives-Matter-Demonstration am 27. Juni in Berlin Foto: Michael Sohn/ap

Die Proteste gegen Rassismus und Gewalt der Polizei in den USA sind längst auch in Deutschland angekommen: Tausende Menschen gehen seit dem Tod von Georg Floyd auf die Straße. Angeregt durch diesen politischen Moment fordern nun die Grünen, den Begriff „Rasse“ in Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes zu ersetzen. Das hat eine Debatte ausgelöst. Doch warum wird diese geführt, ohne die Gegenargumente von Schwarzen Expert*innen zu berücksichtigen?

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Was die Grünen hier fordern, mag im ersten Moment fortschrittlich erscheinen, neu ist das Vorhaben nicht. Bereits vor zehn Jahren forderte der weiße Menschenrechtler Hendrik Cremer, „Rasse“ ersatzlos aus dem Grundgesetz zu streichen. Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e. V. (ISD) intervenierte gegen die ersatzlose Streichung und kritisierte, dass die Debatte nicht ausschließlich von Weißen geführt werden dürfte.

Sie schlugen vor, „Rasse“ durch „rassistische Diskriminierung“ zu ersetzen. Demnach sollte der Absatz wie folgt lauten: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Angefügt werden soll der Satz: „Der Staat gewährleistet Schutz gegen jedwede gruppenbezogene Verletzung der gleichen Würde aller Menschen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Grüne und ISD argumentieren, dass der Begriff „Rasse“ rassistisch sei und dass Menschen heutzutage nicht mehr in biologische „Rassen“ eingeteilt werden könnten. Als Relikt der Aufklärung sei der Begriff mit Leid und Trauer verbunden. Mehr noch: Es sei nicht nur schmerzhaft, sondern auch traumatisierend, als Schwarzer Mensch in Deutschland als „Rasse“ kategorisiert zu werden. Mit jedem Aufrufen des Begriffs würden Erinnerungen an koloniale und nationalsozialistische Unterdrückung und Entmenschlichung wachgerufen. In diesem Punkt stimmen sie mit der weißen Mehrheitsgesellschaft überein, die sich schwertut, ihre historische Schuld einzugestehen. Doch sind diese emotionalen Gründe richtige Ratgeber, um eine Grundgesetzänderung zu fordern?

Systemische Ideologie und Subjektive Beliebigkeit

Rassismus ist eine herrschaftssichernde systemische Ideologie, die sich über Jahrhunderte in allen Teilbereichen der deutschen Gesellschaft eingeschrieben hat: In der Wirtschaft (Kolonialismus und Versklavung), in der Politik (mit dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1912/1913, den Nürnberger Gesetzen von 1935 sowie der Migrations- und Asylpolitik), in Erkenntnis- und Repräsentationssystemen (bewusste oder unbewusste Denk-, Seh- und Handlungsmuster eines jeden Individuums), in Institutionen (Polizei, Justiz, Schule, Verwaltungsbehörden etc.), in den Medien und nicht zuletzt in der Wissenschaft.

Durch Immanuel Kants Rassenlehre wurde „Rasse“ zu einem greifbaren Konzept, auf dessen Grundlage Menschen diskriminiert werden konnten. Seine Richtigkeit wurde nicht angezweifelt, was dazu führt, dass Rassismus bis heute als strukturierendes und ordnendes Merkmal fortwährend tradiert, politisiert und reproduziert wird.

Fortschrittlich ist der Vorschlag der Grünen und der ISD vor allem deswegen nicht, weil er dazu führen würde, dass der historische Kontext von Rassismus verloren gehe. Bevor überhaupt festgeschrieben wurde, dass Rassismus strukturell ist und zur Entstehung von „Rassen“ geführt hat (und nicht umgekehrt). Der Erkenntnisgewinn, dass nur eine menschliche „Rasse“ existiert, hat nicht zum Fortgang von Rassismus geführt. Und das wird das Streichen oder Ersetzen von „Rasse“ auch nicht. Vielmehr würde ein wichtiges Ordnungsmerkmal verloren gehen, das vor allem im Kontext Schwarzer deutscher Geschichte Relevanz hat. So beispielsweise die Verwobenheit von „Rasse“ und Nation, warum deutsch überhaupt als weiß imaginiert wird.

Auch vom Ersetzen des Begriffs durch „rassistische Diskriminierung“ ist abzuraten. Dies würde dazu führen, dass Rassismus in seiner Komplexität reduziert wird und „Rasse“ als Kernmoment von Rassismus verfehlt wird. Stattdessen führe es weg von der Strukturgegebenheit hin zu einer subjektiven Beliebigkeit, die ebendiese historische Dimension außen vor lässt. Die Folge wäre, dass rassistische Mythen wie „Reversed Racism“ (vermeintlicher Rassismus gegen Weiße) und „Deutschenfeindlichkeit“ als rassistisch eingestuft werden könnten. Vielmehr müssten wir doch anerkennen, dass „Rasse“ (wie „Geschlecht“) sozial konstruiert ist und als Endprodukt des Rassismus strukturell und allgegenwärtig ist.

Antidiskriminierungslogik

Nur mit der notwendigen emotionalen Distanz wird deutlich, dass das Antidiskriminierungsrecht Menschen nicht in „Rassen“ kategorisiert, wie es viele der Kritiker*innen meinen, sondern Schutz vor ebendieser diskriminierenden Kategorisierung bietet. Auf dem Verfassungsblog schreiben die Jurist*innen of Color Dr. Cengiz Barskanmaz und Dr. Nahed Samour dazu:

„Wenn einem Schwarzen Mann der Zugang zur Disko verweigert wird, geht der Türsteher nicht davon aus, dass er biologisch der,schwarzen Rasse' angehört, sondern dass Schwarzer Männlichkeit, wie im Falle von George Floyd, gefährliche und weitere negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Das ist gemeint, wenn von Rasse und Geschlecht als soziale Konstrukte gesprochen wird, die zudem mit einander verschränkt sind.“

Dieses Beispiel zeigt, dass der Rechtsbegriff „Rasse“ ein notwendiges Instrument ist, um Anti-Schwarzen-Rassismus antidiskriminierungsrecht­lich angehen zu können. Es ist daher existenziell wichtig, „Rasse“ als widerständigen Begriff anzueignen. Genauso wie wir es in der Vergangenheit mit vielen Begriffen getan haben. Wie „Schwarz“, was gegenwärtig als sozialpolitische Selbstbezeichnung auch in der adjektivischen Verwendung großgeschrieben wird. Falsch wäre es, „Rasse“ mit dem „N-Wort“ gleichzusetzen, das der Inbegriff von Anti-Schwarzem Rassismus ist.

Zudem ist es zwingend nötig, Schutz vor Mehrfachdiskriminierung (Intersektionalität) gesetzlich zu verankern. Denn die gesellschaftlich meist gefährdetsten Personen sind beispielsweise Schwarze Frauen, Schwarze muslimische Frauen, Schwarze Frauen mit Behinderung oder Schwarze LGBTQIA*-Personen. Diese Arbeit steht den Jurist*innen noch bevor.

Ein Umdenken ist möglich

Den Vorteil, den wir Schwarzen Sozial­wis­sen­schaft­le­r*in­nen gegenüber den Jurist*innen haben, ist, dass wir das englischsprachige Wort race verwenden, was beispielsweise ermöglicht hat, Alltagsrassismus auf der sozialen Ebene (Wohnungs- und Arbeitsmarkt) zu untersuchen. Damit konnten wir die hier deutlich gewordene Problematik umgehen. Während dem englischen Begriff eine soziale Definition zugrunde liegt, bleibt der deutsche Begriff in seinem historisch-biologistischen Entstehungskontext verhaftet, was letztendlich zur Forderung der Grünen geführt hat.

Doch das kann nicht die Lösung sein! Es wird Zeit, den sogenannten „racial turn“ in Deutschland einzuläuten. Wir müssen nicht nur Schwarz und weiß, sondern auch „Rasse“ neu denken. Die Anwendung der „rassischen Wende“ auf den deutschen Kontext kann für ein kategorienbasiertes Antidiskriminierungsrecht fruchtbar gemacht werden. So meint etwa der Jurist Barskanmaz, dass es zwar gewöhnungsbedürftig sei, aber dennoch konsistent wäre, von „rassischer Diskriminierung“ (racial discrimination) statt von „rassistischer Diskriminierung“ zu sprechen, was für ihn eine tautologische Wortbildung sei, da Rassismus und Diskriminierung zwei negativ besetzte Begriffe sind. Bei „rassische Diskriminierung“ funktioniere rassisch – wie geschlechtlich, ethnisch, religiös – als Attribut, um die Diskriminierungsform zu beschreiben.

Natasha A. Kelly, ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin mit den Forschungsschwerpunkten Kolonialismus und Feminismus.

Dieser Ansatz ist prozessorientiert (und nicht ergebnisorientiert) und wurde in den USA durch den Schwarzen Soziologen W. E. B. Du Bois zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Wissenschaft eingeführt. Der Schwarze Antirassismusforscher wandte sich dabei von den vorherrschenden biologistischen Vorstellungen von Race ab, in dem er die soziale Konstruiertheit der Kategorie aufzeigte. Diese Intervention zog zahlreiche gesellschaftliche Widerstandspraktiken, wie die Etablierung von sogenannten HBCUs (Historical Black Colleges and Universities), nach sich.

Deutschland und Europa sind fast 100 Jahre zu spät in dieser Entwicklung. Um die „rassische Wende“ hierzulande auf den Weg bringen zu können, müssen Schwarze Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color langfristig an deutschen Universitäten eingestellt werden, nicht nur, aber auch in der Antirassismusforschung. Eine offizielle Antirassismusforschungsstelle muss eingerichtet und langfristig finanziert werden. Primäres Ziel muss es sein, allgemeine Grundlagen zu schaffen, Definitionsfragen zu klären sowie Analysetools (weiter-) zu entwickeln.

Darüber hinaus müssen an allen Universitäten Deutschlands Black Studies implementiert werden, wie die Jusos dies für Berlin fordern. Durch die strukturübergreifende Institutionalisierung von Schwarzem Wissen aus der Wissenschaft und Forschung heraus in allen Bildungsinstitutionen (von den Kindergärten bis zu den Hochschulen), sowie in allen anderen sozialen Teilbereichen hinein, wäre langfristig ein Umdenken von „Rasse“ zu Race und damit einhergehend gesellschaftliche Veränderung möglich.

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