Watch The Med Alarm Phone: Die Grenzen wegdenken

Mit ihrem Notrufsystem koordiniert und überwacht die Gruppe die Rettung von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer.

Frontex abschaffen! Die rund hundert AktivistInnen aus verschiedenen Ländern verstehen Watch The Med auch als ein politisches Projekt. Bild: Anja Weber

„This number is not a rescue number!” Das liest man, wenn man auf die Webseite der Initiative Watch The Med Alarm Phone geht. Die AktivistInnen fahren nicht selbst mit Booten hinaus. Sie versorgen die Küstenwache mit Informationen und überwachen die Rettungsaktion von MigrantInnen in Seenot.

    Mit vier der AktivistInnen sitze ich im Berliner Designstudio Bildargumente. Ihre Initiative besteht aus ungefähr hundert Leuten aus verschiedenen Ländern beider Seiten des Mittelmeers. „Left to die”, das ist der Ausdruck der europäischen Staaten für die bewusste Nichtrettung von Migranten in Seenot.

    Das Watch The Med Alarm Phone will das Gegenteil: Es betreibt seit 11. Oktober 2014 eine Hotline für Flüchtlinge in Seenot. Das Datum markiert den Jahrestag eines Unglücks, das vermeidbar gewesen wäre. An diesem Tag des Jahres 2013 waren gut 260 MigrantInnen vor Lampedusa ertrunken, nachdem die italienische und die maltesische Küstenwache die Verantwortung hin- und hergeschoben hatte.

    Möglichkeiten der Intervention

    Das war nicht der erste Fall dieser Art, aber einer der ersten, in dem AktivistInnen aus Italien, Deutschland und der Schweiz mithilfe von Watch The Med online genauestens dokumentieren konnten, wie organisierte Verantwortungslosigkeit zum Tod Hunderter Flüchtlinge auf See führte.

    • Der Preis: Einmal im Jahr wollen wir mit dem Panter Preis Einzelpersonen und Initiativen auszeichnen, die sich mit starkem persönlichem Einsatz für andere Menschen einsetzen. Dafür werden zwei mit 5.000 Euro dotierte Preise verliehen: der erste von einer prominent besetzten Jury, der zweite von Ihnen, den LeserInnen der taz. Bis Ende Juli stellen wir Ihnen die Nominierten gedruckt in der taz.am wochenende und online auf www.taz.de/panter vor.

    • Die LeserInnenwahl: Ab dem 08. August 2015 können Sie IhreN FavoritIn aus den sechs Nominierten wählen.

    • Die Verleihung: Am 19. September 2015 werden die Preise schließlich unter der Schirmherrschaft der taz Panter Stiftung im Deutschen Theater Berlin verliehen.

    • Solidarität: Unterstützen Sie uns. Spenden Sie unter dem Stichwort: „taz Panter Preis” (taz Panter Stiftung, GLS Bank Bochum, BIC GENODEM1GLS, IBAN DE 97430609671103715900). Die taz Panter Stiftung ist gemeinnützig und Spenden können steuerlich abgesetzt werden.

    „An dem Punkt haben wir gesagt: Dokumentieren ist gut, aber wir brauchen eine Art Interventionsmöglichkeit”, sagt Laura Maikowski, Mitgründerin der Initiative und ihre Onlineverantwortliche.

    Daraufhin haben sie sich über Notrufhotlines kundig gemacht: Wie installiert man eine solche, wie kann man sie betreiben? Zudem waren MigrantInnen an der Entwicklung beteiligt, die die Reise über das Mittelmeer nach Europa schon hinter sich hatten. Als sie das Wichtigste wussten, gründeten sie das Alarmtelefon. 

    Öffentlich informieren und Druck ausüben

    Teil der Idee war es zudem, Einzelpersonen zu entlasten, wie zum Beispiel Father Zerai, einen eritreischen Priester. Er macht diese Art Arbeit von der Schweiz aus schon seit Jahren. „Seine Nummer kursiert sogar in libyschen Gefängnissen”, sagt Maikowski. Von ihm haben sie sich beraten lassen. Inzwischen können sie ihm Arbeit abnehmen.

    „Unser Anliegen ist, öffentlich zu informieren und Druck auszuüben, wenn Hilfe ausbleibt”, erklärt Sophie Hinger, die über die Organisation Borderline Europe zum Watch-The-Med-Projekt gefunden hat.

    Konkret sieht ihre Arbeit heute so aus: Die Notrufnummer ist rund um die Uhr besetzt. Die AktivistInnen übernehmen Schichtdienste von jeweils acht Stunden. Die meisten Boote haben ein Satellitentelefon an Bord, mit dem in Seenot geratenen MigrantInnen die Hotline anrufen können.

    Systematisches Vorgehen ist gefragt

    „Das Wichtigste ist, bei Anrufen die Koordinaten zu erfahren”, erklärt Lisa Groß. So kann das Boot lokalisiert und anhand der Daten des Satellitentelefons identifiziert werden. Mit ihren weiteren Fragen gehen sie sehr systematisch vor: Wie viele Leute sind an Bord? Wie ist der Zustand des Bootes? Danach informieren sie die Küstenwache.

    Gleichzeitig geben sie die Infos auch an andere zivile Akteure wie Sea Watch oder Ärzte ohne Grenzen weiter. Das wiederum weiß die Küstenwache. So ist diese gezwungen, sich um die in Seenot Befindlichen zu kümmern.

    Alle AktivistInnen haben ganz eigene Erfahrungen mit der Küstenwache gemacht: „Sie sind meistens dankbar für die Informationen, aber sie sind nicht verpflichtet, uns zu informieren, ob und wie die Rettungsaktion verlaufen ist”, erzählt Maikowski.

    Aufklärung mithilfe von Twitter

    Interessanterweise berichten inzwischen viele Küstenwachen über Twitter von ihren Rettungsaktionen. „Das kam mir Anfangs total verrückt vor, aber es ist sehr praktisch, dass Leute diesen Tweets folgen können und auf diese Weise erfahren, was passiert”, sagt Hinger.

    Ein weiterer wichtiger Teil ihrer Arbeit besteht darin, dass sie Kontakt zu den Leuten an Bord halten: „Die psychologische Unterstützung, ihnen zu sagen: Bleibt in Verbindung! Keine Panik! Die Moral hochhalten. Das ist das wirklich Schwierige in solchen Situationen”, erklärt Maikowski.

    Zumindest für eine kurze Zeit versuchen sie auch weiter zu verfolgen, was mit den Menschen nach der Rettung geschieht. Sie erklären ihnen, wo sie hingehen und was sie tun können, wenn sie Familienmitglieder verloren haben. „Es gibt auch Leute, die uns vom Boot aus anrufen und fragen, was sie mit den Toten an Bord machen sollen. Und dann müssen wir antworten”, erzählt Laura Maikowski.

    Die Flüchtlinge in den Transitregionen informieren

    Die Notrufnummer von Watch The Med wird in MigrantInnen-Communitys in den Transitregionen – etwa Marokko und die Türkei – verbreitet. „Für uns Migranten ist es besonders wichtig, diese Informationen zu verbreiten”, erklärt Trésor, Aktivist des Kooperationspartners Voix des Migrants, und ergänzt, dass Kenntnisse darüber, was im Mittelmeer geschieht, aber auch Instruktionen über Sicherheit auf See Leben retten können.

    Die Innitiative Watch The Med Alarm Phone betreibt seit Oktober 2014 eine Hotline für Flüchtlinge in Seenot. Die Nummer ist rund um die Uhr erreichbar und wird in den Transitregionen verbreitet.

    Zudem soll die Situation an den EU-Außengrenzen und damit einhergehende politische Verantwortungslosigkeit dokumentiert werden.

    www.watchthemed.net

    Die Freiwilligen vom Watch The Med Alarm Phone laden ihre Satellitentelefone wieder mit Geld auf, damit die MigrantInnen auf See Kontakt halten können. Aber inzwischen suchen Menschen in Not sogar über Smartphone-Apps wie Whatsapp oder Viber den Kontakt.

    Für die Schichtdienste am Telefon gibt es ein Handbuch, das über die Besonderheiten der lokalen Regionen ins Bild setzt. Außerdem bekommen die AktivistInnen ein Training, ehe sie eine Schicht übernehmen. Dort wird ihnen erklärt, wie alles funktioniert und welche Werkzeuge zur Verfügung stehen.

    Kooperationen mit vielen anderen Organisationen

    Ein für das Gelingen des Alarm Phone besonders wichtiges Instrument ist die in Kooperation mit Ozeanografen entwickelte Webseite des Projekts. Mit dieser ist es möglich, genau festzustellen, wo sich ein Boot aktuell befindet. Fälle unterlassener Hilfeleistungen können dank dieses Portals genau rekonstruiert und Beweise für diese gesammelt werden.

    Kooperation ist wichtig für die AktivistInnen des Watch The Med Alarm Phones: Die Initiative arbeitet mit vielen verschiedenen Organisationen zusammen, so etwa Welcome to Europe, Borderline Europe, Sea Watch und eben Voix des Migrants. „Watch the Med ist ein politisches Projekt”, erklärt Hinger. „Es ist nicht nur eine humanitäre Hotline.” Ihre Kollegin Maikowski ergänzt: „Wir wollen das Grenzsystem anders denken. Wir wollen es wegdenken.”

    Eine wirkliche Mittelmeerfähre

    Für das Jahr 2016 ist ein transnationales Bündnis um eine sogenannte disobedient ferry geplant, eine wirkliche Fähre, die MigrantInnen über das Mittelmeer nach Europa bringen würde. Und Boote, die die Fähre begleiten.

    „Wir brauchen eine andere Migrationspolitik“

    Trésor von Voix des Migrants versteht das Alarm Phone nicht als Lösung, aber es ermöglicht einen konkreten Eingriff. „Wir brauchen eine andere Migrationspolitik, in deren Mittelpunkt das Recht auf Bewegungsfreiheit für MigrantInnen und die Abschaffung von Frontex stehen sollte”, erklärt er.

    Die einfachste Lösung wäre immer noch das Öffnen der Grenzen, meint Laura Maikowski, eine Politik, die Flüchtlinge nicht abzuwehren sucht: „Alle Menschen könnten legal herkommen. Das wäre einfacher, sicherer und billiger. Wir wollen uns überflüssig machen.”

    MAREIKE BARMEYER ist promovierte Soziologin und taz.lab-Redakteurin. Außerdem ist sie Mitglied der Berliner Lesebühne Rakete 2000.