Website zu WM-Auswirkungen: Die Wahrheit liegt neben dem Platz

Eine niederländische Website widmet sich den Gewinnern und vor allem den Verlierern der letzten Fußball-WMs – im sozialen und politischen Kontext.

Nicht in jedem WM-Ort wurde gejubelt: Rio, Johannesburg, Leipzig (v.l.n.r.) Bild: Submarine Channel

BERLIN taz | Am 21. Juli 2010 klopfte ein Beamter an der Tür von Eomar Freitas. Man sagte dem brasilianischen Kioskbesitzer, dass er drei Optionen habe: in eine 30 Kilometer weit entfernte Nachbarschaft zu ziehen, eine Obdachlosenunterkunft aufzusuchen oder auf der Straße zu leben. Viele seiner Nachbarn wählten die erste Option. Er entschied sich dagegen. Nun hat er nur noch seinen Kiosk. Sein Haus und die gesamte Nachbarschaft wurden abgerissen. Freitas war sicherlich kein Gewinner der WM.

Die Website „Who Are The Champions?“, die Mitte April gelauncht wurde, erzählt die Geschichte von jeweils 12 Menschen aus den WM-Austragungsorten Rio de Janeiro, Johannesburg und Leipzig. Realisiert wurde das Projekt von der unabhängigen niederländischen Produktionsfirma Submarine.

Auf der Startseite muss sich der User zunächst für einen Austragungsort entscheiden, dessen Geschichten er erkunden will. In Rio reihen sich an die Story von Eomar Freitas die der Nagelstudiobesitzerin Ana Rita da Silva und die Schilderungen des Obdachlosen Paulo Goncalves. Ihre WM-Bilanzen werden in einem sehr überzeugenden multimedialen Zusammenspiel aus Fotos, Audio- und Textbeiträgen dargestellt.

Passende News-Artikel des Guardian oder des Spiegels rahmen die Einzelschicksale ein. Und die Einbindung von Google Maps und -Street View verleiht ihnen eine räumliche Tiefe. Auf den digitalen Karten und Straßenbilder wird die Nähe zum Stadium erfahrbar.

Jubel vs. Trubel

Schon im Dezember 2013 kam Yaniv Wolf die Projektidee. Während die Fußball-WM in Deutschland ein Erfolg zu sein schien, gingen in Brasilien die Menschen auf die Straße, um im Vorfeld gegen die Veranstaltung zu demonstrieren. Das Geld wäre besser in Bildung oder Gesundheitsversorgung investiert worden, lautete der Hauptvorwurf.

Vor diesem Hintergrund schrieb Wolf sein Konzept. Die Resonanz war positiv. Schnell fand er Sponsoren. So wurde die Website unter anderem von dem niederländischen Filmfonds und der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien gefördert.

Zunächst wurde in Brasilien recherchiert. Dort griffen die Produzenten auf eine Korrespondentin der niederländischen Zeitung NRC zurück. Auch in Johannesburg und Leipzig fanden die Niederländer lokale Partner. Jeweils rund sechs Tage waren die Teams in den drei Städten unterwegs.

Im April 2014 wurde Submarine Channel, die Online-Abteilung von Submarine, für ihr Projekt Last Hijack Interactive, das sich der Piraterie vor Somalias Küste widmete, mit einem Emmy ausgezeichnet. Die in Kooperation mit dem ZDF entstandene Website zeigt eine Schiffsentführung aus den Augen eines Kapitäns und alternativ aus denen eines Piraten.

Auch die liebevoll gestaltete Website Refugee Republic, die den Alltag in einem syrischen Flüchtlingscamp wiedergibt, ist einen Besuch wert. Auf verschiedenen Routen lässt sich das Camp virtuell durchschreiten. Die vielen interaktiven Elemente sorgen für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema. Es sind Geschichten von Marginalisierten. „Geschichten von der Straße“, wie Yaniv Wolf sagt.

Rio ist überall

Das Internet ist ein Medium, das Verknüpfungen schafft. Diesem Gedanken folgend wird fast jede WM-Geschichte aus Rio mit einer ähnlichen aus Leipzig und Johannesburg in Verbindung gesetzt. So lässt sich eine Parallele von der Südafrikanerin Mpumi Nkosi zum Brasilianer Givaldo Vieria Da Silva ziehen.

Erstere wollte selbstgestaltete T-Shirts mit Aufschriften wie „Africa Unite“ vor dem Stadion in Johannesburg verkaufen. Der Fifa-Vermarktungsmaschinerie passte das nicht in den Kram – genauso wie die Tatsache, dass Da Silva Erdnüsse in der Nähe des Estádio do Maracanã in Rio verkaufen wollte – obwohl er das schon seit 32 Jahren tut.

Ende Mai wird Fifa-Präsident Sepp Blatter voraussichtlich wiedergewählt. Die Website wirft ein Schlaglicht auf seine Arbeit. Die Einnahmen stiegen unter seiner Amtsführung ins Unermessliche. Wenig davon kam bei den Menschen in der Nähe der Austragungsorte an. Zumindest in Südafrika und Brasilien. Die in Leipzig eingefangenen Stimmen sind hingegen größtenteils positiv.

Eine Fußball-WM besteht nicht nur aus Toren und Tröten. Es sind große Infrastrukturprojekte, die ganze Städte umkrempeln und das Leben der Anwohner nachhaltig verändern – oder eben auch nicht. Viele der Verheißungen, mit denen die Turniere im Voraus beworben werden, zerplatzten. Auf der Fanmeile oder dem heimischen Sofa bekommt der geneigte Fußballfan davon nur wenig mit. Gut, dass die „Who Are The Champions?“-Website die Schicksale hinter der glänzenden Fifa-Kulisse sichtbar macht.

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