Wissenschaftlerin über Schulsport: „Motorische Auffälligkeiten“

Kinder und Jugendliche bewegen sich heute zwar etwas mehr. Allerdings steigt auch die Zahl motorisch auffälliger Kinder, sagt Swantje Scharenberg.

Kinder beim Laufen

Bewegung fördert nicht nur die Motorik, auch das Körperbewusstsein wird verbessert Foto: dpa

taz: Frau Scharenberg, wie fit ist unser Nachwuchs?

Swantje Scharenberg: Unsere Langzeitbeobachtung der Kinder und Jugendlichen zeigt, dass die Bewegungszeiten zunehmen. Es wird also mehr Sport gemacht, nicht nur in den Vereinen, sondern auch in den Ganztagsschulen und Kindergärten. Das bedeutet aber nicht, dass der Nachwuchs auch fitter ist. Zum Beispiel steigt die Zahl der Kinder mit Haltungsproblemen und motorischen Auffälligkeiten. Auch die Zahl der jungen Menschen mit Übergewicht ist immer noch viel zu hoch.

Woran liegt das?

Ein großes Problem ist der sitzende Lebensstil. Die Kinder und Jugendlichen sitzen immer länger in Klassenräumen und am Schreibtisch. Auch den Abend verbringen viele Familien auf dem Sofa vor dem Fernseher. Eine Folge: Weniger als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen schafft die Bewegungsempfehlung von mindestens 60 Minuten pro Tag.

Was sind die Folgen dieses Bewegungsmangels?

Kinder, die sich nicht ausreichend bewegen, sind öfter antriebslos und haben auch zunehmend Probleme in der Alltagsmotorik, bereits beim Gehen, Stehen oder Fahrradfahren. Auch Konzentrationsschwächen stellen wir bei körperlich inaktiven Kindern immer wieder fest. Ein wichtiger Aspekt pro Bewegung ist die Steigerung der Lebensqualität als Langzeitfolge. Zum Beispiel macht Bewegung unsere Knochen fester und senkt im Alter die Gefahr für Osteoporose.

leitet das deutschlandweit einzige Forschungszentrum für den Schulsport und Sport von Kindern und Jugendlichen (FoSS), eine interinstitutionelle Einrichtung des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der PH Karlsruhe. Die Sportwissenschaftlerin ist Autorin zahlreicher Fachbücher (auch für Kinder), wissenschaftlicher sowie praxisbezogener Buch- und Zeitschriftenbeiträge. Die DTB-Referentin und Disziplinchefin für Gerätturnen im Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverband ist in der Aus- und Fortbildung im In- und Ausland tätig.

Welche Bedeutung hat Bewegung für die geistige Entwicklung?

Bewegung fördert schon im Säuglingsalter die geistige Entwicklung. Babys lernen über Bewegung ihren eigenen Körper und die Umgebung kennen. Im Laufe der ersten Monate entstehen so wichtige neuronale Verbindungen im Gehirn und zu den Muskeln. Das ist die Grundlage für gezielte Bewegungen und räumliche Wahrnehmung. Das ist nur eins von vielen Beispielen für die Verknüpfung zwischen Bewegung und Intelligenz. Die positiven Effekte sind übrigens nicht nur auf die Kindheit beschränkt. Bis ins hohe Alter aktiviert Bewegung die Nervenzellen und stärkt die neuronalen Verbindungen. Außerdem steigt die Durchblutung im Gehirn und das hilft beim Denken und bei der Konzentration.

Was können Eltern tun, um den Bewegungsdrang zu fördern?

Die Eltern sollten nicht nur das Familienleben aktiv gestalten und Bewegungsangebote schaffen, sondern auch selbst Vorbild sein. Wenn sie sich regelmäßig bewegen und Sport treiben, motiviert das auch die Kinder zur Aktivität.

Das Motorik-Modul (Momo) ist Teil der bundesweiten Kiggs-Studie, die die Gesundheit von 18.000 Kindern unter die Lupe nimmt. Für die Momo-Studie untersuchten Sportwissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) die motorische Leistungsfähigkeit von knapp 5.000 Kindern zwischen 4 bis 17 Jahren in zwei Zeiträumen (2003 bis 2006 und 2009 bis 2012). Die Kinder mussten Liegestütze machen, rückwärts balancieren, mit Rumpfbeugen ihre Beweglichkeit unter Beweis stellen oder springen. Ein wichtiges Ergebnis der aktuellen Erhebung: Die Kinder bewegen sich im Schnitt mehr und die Zahl zu dicker Erstklässler geht leicht zurück. Gleichzeitig gibt es mehr motorisch auffällige Kinder. (big)

Welche Rolle spielen frühe Bildungseinrichtungen wie Kindergärten und Grundschulen für die motorische Entwicklung?

Im Kindesalter legen wir den Grundstein für motorische Eigenschaften wie Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit. Erzieher und Grundschullehrer tragen also eine große Verantwortung für die kindliche Entwicklung. Leider haben viele Frühpädagogen keine Sportausbildung und suchen nun aktiv nach mehr Fortbildungen. Außerdem mangelt es vielen Kindergärten und Grundschulen an kindgerecht ausgestatteten Bewegungsräumen sowie Ideen für Bewegungsangebote, die in den Tagesablauf integriert werden können.

Eine Folge davon ist ja die Abschaffung des Purzelbaums. Warum geht es ausgerechnet der Rolle vorwärts an den Kragen?

Die Rolle vorwärts wird tatsächlich in vielen Bundesländern nicht mehr gelehrt. Auch aus der Kinderturnausbildung ist sie verschwunden. Die Begründung: Die Armkraft vieler Kinder reiche nicht aus, um ihr zu hohes Körpergewicht zu halten. Dadurch steige die Verletzungsgefahr. Aus meiner Sicht ist das keine Alternative. Statt einfach auf die Rolle zu verzichten, sollten sich die Lehrer und Trainer lieber neue Methoden und Hilfestellungen aneignen, damit auch übergewichtige Kinder diese wichtige Bewegungserfahrung machen können.

Welche Rolle spielen Sportvereine bei der Lust an Bewegung?

Die Zahl der in Sportvereinen angemeldeten Grundschulkinder liegt inzwischen bei 80 Prozent. Das sagt noch lange nichts darüber aus, wie aktiv die Kinder wirklich sind. Ich finde es aber positiv, dass die Zahl der Kooperationen zwischen Vereinen und Schulen steigt und damit auch die Qualität und Vielfalt im Schulsport.

Welche Aufgaben erfüllt der Sportunterricht in der Schule?

Der Sportunterricht hat einen Doppelauftrag und zwar Erziehung zum und durch den Sport. Die Kinder sollen durch den Sport ein soziales Miteinander oder den Umgang mit Siegen und Niederlagen lernen. Der Sportunterricht soll außerdem zur Bewegung inspirieren, am Besten lange über die Schulzeit hinaus. Dafür versuchen die Lehrer den Schülern neue und altersgerechte Sportarten nahezubringen. Dabei ist wichtig, auf die unterschiedlichen Fähigkeiten der Kinder einzugehen, machbare Aufgaben und Herausforderungen zu stellen und die Leistungen jedes einzelnen Schülers differenziert zu würdigen.

Das klingt doch vielversprechend. Warum fallen dann so viele Sportstunden aus? Wäre eine tägliche Sportstunde nicht die bessere Lösung?

Genau das wurde in Österreich gerade eingeführt. Aus der Forschung wissen wir, dass dieses Modell positiven Einfluss auf die schulischen Leistungen und Konzentration der Schüler hat. Leider scheint die Idee in Deutschland nicht umsetzbar. Deshalb müssen die Bewegungsangebote in Schulen und Kindertagesstätten ausgebaut werden – sowohl auf den Pausenhöfen als auch im Klassenzimmer.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.