Zensur in Polen: Gesetz zum Schutz des guten Rufes

Die rechtsnationale polnische Regierung droht Wissenschaftlern, die Antisemitismus in Polen erforschen, mit einer Haftstrafe.

Ein älterer Mann mit Brille

Muss nicht nur um seinen Verdienstorden fürchten: Gegen den polnischen Historiker Jan T. Gross ermittelt die Warschauer Staatsanwaltschaft. Foto: ap

WARSCHAU taz | Verräter oder Patriot? – immer wieder muss sich Jan Tomasz Gross, polnisch-jüdischer Geschichts-Professor an der renommierten amerikanischen Princeton-University, diese Frage stellen lassen. Er selbst sieht sich als polnischen Patrioten, wie er nicht müde wird zu versichern.

Mit seinen zahlreichen Büchern zur sowjetischen Besatzung Polens 1939-1941, dem Holocaust und den von Polen verübten Pogromen an ihren jüdischen Nachbarn regte Gross eine bis heute andauernde Geschichtsdebatte in Polen an. Sie brachte ihm – neben großem Ansehen – aber auch viele Feinde ein.

Die fordern nun von Polens rechtsnationalem Präsidenten Andrzej Duda, Gross das 1996 verliehene Kavalierskreuz für besondere Verdienste wieder abzuerkennen. Nicht die einzige Sanktion, die dem Historiker droht, weil er unbequeme Fragen stellt.

Die Forderungen gegen Gross trägt unter anderem die rechtsradikale Stiftung „Festung für den guten Ruf Polens – Polnische Antidiffamierungsliga“ vor. Mit gewissem Erfolg: Seit Oktober 2015 setzten bereits mehr als 40.000 Menschen ihre Unterschrift unter Sätze wie „Jan Tomasz Gross ist ein ungewöhnlich schädlicher Verleumder, der unter dem Schein wissenschaftlicher Arbeit eine gegen Polen gerichtete Diffamierungs- und Beleidigungs-Kampagne durchführt.“

Angestiftet durch die SS – teilweise

Auch wenn die Motive des Historikers unbekannt seien, schreibt der Vorsitzende der Antidiffamierungsliga und Autor der Petition, Maciej Swirski, so sei „die hasserfüllte Publizistik von Gross auf keinen Fall wissenschaftliche Arbeit“. Darauf hätten schon öfters polnische Historiker aufmerksam gemacht, ebenso wie auch auf grobe methodologische Fehler und Überinterpretationen von Fakten, die dann zu Fehlschlüssen und sogar Fälschungen führten.

Die Vorwürfe beziehen sich in erster Linie auf das im Jahr 2001 erschienene Buch „Nachbarn“, in dem Gross schildert, wie katholische Polen im nordostpolnischen Dorf Jedwabne – angestiftet durch deutsche SS-Männer – ihre jüdischen Nachbarn ermordeten und dann deren Eigentum untereinander aufteilten.

Damit zerstörte Gross den polnischen Geschichts-Mythos von den ewigen „Helden und Opfern der Geschichte“. Später ergaben weitere Forschungen, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs in knapp 70 weiteren Orten Pogrome verübt hatten – mit, aber auch ohne Anstiftung durch die Nazis.

Historiker des Warschauer Zentrums zur Erforschung des Holocaust zeigten in mehreren Studien auf, dass die aus den Ghettos geflohenen Juden kaum ein Versteck bei polnischen Bauern finden konnten, sondern im Gegenteil noch Verrat, Raub und Totschlag durch ihre Landsleute fürchten mussten. Wieviele Juden ermordet wurden, kann nur geschätzt werden.

Mehr Juden als Deutsche getötet

Keiner der Historiker behauptet, dass Polen dadurch eine Mitschuld am Holocaust trage, auch Jan Tomasz Gross nicht. Doch die Frage der Kollaboration mit den Nazis stellt sich von neuem. Das Thema ist bis heute ein Tabu in der polnischen Gesellschaft. Wer sie wie Gross stellt, geht dafür möglicherweise ins Gefängnis. Seit Oktober ermittelt die Warschauer Staatsanwaltschaft gegen Gross wegen „öffentlicher Beleidigung der polnischen Nation“. Theoretisch drohen dem Historiker nun drei Jahre Haft.

Auslöser der Ermittlungen war ein auch in Deutschland erschienener Zeitungsartikel. Darin fragte Gross, ob die „herzlose und kaltschnäuzige“ Verweigerung jeglicher Solidarität der Slowaken, Ungarn und Polen mit den Kriegsflüchtlingen heute nicht auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen sei: „Die Polen beispielsweise waren zwar zu Recht stolz auf den Widerstand ihrer Gesellschaft gegen die Nazis“, schreibt Gross in der Welt, „haben aber tatsächlich während des Krieges mehr Juden als Deutsche getötet.“

Dieser Satz brachte dem Historiker viel Kritik ein, da vielen Polen die hohe Zahl der Pogrome nicht bekannt ist. Sie wissen zumeist nur von dem Pogrom in Jedwabne 1941. Andere warfen Gross vor, er ziehe eine falsche Linie – vom fehlenden Mitgefühl für die Juden als Hauptopfer der Nazis zur aktuellen Solidaritätsverweigerung mit Kriegsflüchtlingen.

Besonders übel nahmen ihm aber viele Kritiker, dass dieser Text auch in einer deutschen Zeitung erschienen war. Der polnische Botschafter in Berlin, Jerzy Marganski, wollte vom Chefredakteur der Welt in einem Leserbrief wissen, ob „da die Geschichte nicht doch neugeschrieben“ werde.

Ein Präsident sorgt sich um den Ruf des Landes

Schon vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten stieß der kritische Geschichtsblick bei Andrzej Duda auf wenig Gegenliebe. Während des Präsidentschafts-Wahlkampfes im Mai 2015 hatte der damalige Herausforderer den amtierenden Präsidenten Komorowski scharf für dessen Haltung zu Jedwabne und zur Vergangenheits-Aufarbeitung kritisiert. Sie habe sich schlecht „auf den guten Namen Polens“ ausgewirkt.

Nun ist Duda selbst Präsident. Vieles spricht dafür, dass er nun dem Historiker das 1996 verliehene Kavalierskreuz wieder abnimmt. Neben den 40.000 Unterschriften der Online-Petition erhielt Duda mehr als 2.000 Zuschriften von Bürgern, die die Gross-Publikationen für eine „Beleidigung Polens“ halten.

Allerdings gibt es auch Rückhalt für Gross. Als Duda vor kurzem das polnische Außenministerium offiziell um eine Stellungnahme zur Aberkennung des Verdienstordens bat, solidarisierten sich zahlreiche Historiker mit Gross und publizierten einen offenen Brief an Duda. Die Unterschriftenliste liest sich wie ein Who is Who der besten Zeitgeschichts- und Holocaust-Forscher des Landes: Wlodzimierz Borodziej, Jan Grabowski, Dariusz Libionka oder Joanna Tokarska-Bakir.

In dem Brief erinnern sie nicht nur an die bahnbrechenden Bücher von Gross zur sowjetischen Besatzung Polens, sowie zu den Pogromen in Jedwabne und Kielce. Sie warnen auch ausdrücklich vor einer „Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft“, sollte Gross nun tatsächlich der Orden aberkannt werden. „Eine solche Geste würde der von der Regierung betriebenen Geschichtspolitik kein gutes Zeugnis ausstellen und Polen nicht nur in unseren Augen, sondern weltweit kompromittieren“, schreiben die Wissenschaftler.

Gross selbst lässt sich von der harschen Kritik nicht beirren: Im Deutschlandfunk präzisierte er seine Aussagen aus dem Welt-Artikel: Die Polen hätten während des Krieges tatsächlich mehr Juden als Deutsche getötet, so Gross. Es sei relativ einfach nachzurechnen, wie viele Deutsche von Polen während der deutschen Besatzung getötet wurden: 25.000 bis 30.000.

Dagegen sei die Zahl der polnischen Juden, die von christlichen Polen getötet oder an die Nazis verraten wurden, „um ein Vielfaches höher“. Man wisse, das ungefähr 10 bis 20 Prozent der in den Ghettos eingesperrten Juden geflohen seien. Rund 200.000 bis 250.000 Juden hätten Schutz bei christlichen Polen gesucht. „Doch nur 40.000 polnische Juden haben überlebt“, sagt Gross: „Es sind viele Zehntausende, die zweifellos von Polen getötet wurden.“

Schon die 2. „Lex Gross“

Die polnische Regierung scheint entschlossen, den unbequemen Historiker zum Schweigen zu bringen. Vergangene Woche kündigte Polens stellvertretender Justizminister Patryk Jaki ein „Gesetz zum Schutz des guten Rufs Polens“ an, das sich bei genauerem Hinsehen als Neuauflage der „Lex Gross“ herausstellt, die die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in ihrer Regierungszeit von 2005 bis 2007 schon einmal als Zensurgesetz auf den Weg gebracht hatte.

Das neue Gesetz soll vorgeblich den Gebrauch der fehlerhaften Begriffe „polnisches Konzentrationslager“ oder „polnisches Todeslager“ vor allem im Ausland unter Strafe stellen. Mit bis zu fünf Jahren Haft müssten Journalisten rechnen. Doch das Gesetz, wie auch immer es formuliert sein mag, wird außerhalb der Grenzen Polens keine Gültigkeit haben. Um ausländische Journalisten geht es also gar nicht, sondern um eine Art Wissenschaftszensur innerhalb Polens.

Schon einmal hatte die PiS versucht, mit einem Zensur-Gesetz ein Urteil gegen Gross zu ermöglichen. Ärger hatte Gross damals mit seinem Buch „Angst“ erregt, in dem er sich mit dem Nachkriegs-Antisemitismus in Polen und dem Pogrom in Kielce 1946 auseinandersetzte. Am Ende kassierte das Verfassungsgericht die „Lex Gross“.

Dieses Mal kann Gross nicht auf die Verfassungshüter vertrauen. Diverse PiS-Gesetze haben das Verfassungsgericht weitgehend gelähmt, so dass das neue Wissenschaftszensur-Gesetz rechtskräftig werden könnte.

Im Namen des „guten Rufs Polens“ könnten Gross oder die Forscher des Warschauer Zentrums zur Erforschung des Holocaust ins Gefängnis gehen, weil sie sich mit Themen wie Pogromen, Kollaboration und Antisemitismus beschäftigen. Die PiS will einen längst überwunden geglaubten Mythos beleben: die Polen als „ewige Opfer und Helden der Geschichte“.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.