Die deutsche Nacht hat sich in ihn eingeschrieben

Fans warten auf den großen Roman von Harry Hass. Er las in Kreuzberg aus Fragmenten vor, die von Rotten, Meuten und Tieren handeln

Der kleine Saal im ersten Stock des Kreuzberger Wirtshauses (Max & Moritz) war voller Menschen. Viele waren dunkel gekleidet und kamen aus den 80er-Jahren. Harry Hass sollte lesen. Der Beatnik, der legendäre Barkeeper aus dem düsteren Westberliner Nachtleben der 80er-Jahre, war in den letzten drei Jahren nur zweimal aufgetreten. Sein Ruhm „in unseren Kreisen“ war groß; die Veröffentlichungen rar. Verstreut hatte es kleinere Texte in Anthologien gegeben, 1992 den Roman „Koko Metaller“. In kleinen Rollen war er in Filmen von Miron Zownir und Oskar Roehler zu sehen gewesen.

Der große Roman, auf den alle warteten, den auch er von sich erwartete, war immer noch nicht da. Es gab so viele Notizen, Entwürfe, Szenen, einzelne Kapitel; viel spielte in den Dreißigern; er war ja besessen von der deutschen Geschichte, dem Faschismus. Das hatte sich in ihn eingeschrieben, die Geschichte war wie die Aufzeichnungs- und Foltermaschine aus Kafkas „Strafkolonie“, und er arbeitete damit. Manchmal dachte ich, dass dies Gift verhinderte, dass die anderen Gifte ihn völlig außer Gefecht setzten.

Während das Publikum im kleinen Saal wartete, saß Harry noch in einem Nebenraum, umgeben von Freunden und Bekannten, die ihn fast ehrfürchtig anschauten. Wie er da so saß, über Papiere gebeugt am Tisch, die Ledermütze tief ins Gesicht gezogen, darunter ein Grinsen, in diesem verschlissenen grauen Beatnikanzug, immer rauchend, dabei noch einen Joint drehend. Das Hasch war seine Ersatzdroge; ich weiß es nicht genau.

Erik Steffen, der Veranstalter, fasste kurz zusammen – Harry Hass, ein „Dinosaurier“ aus jener Zeit und so weiter – bevor der Dichter, verspätet in den Grenzen der Höflichkeit, zur Bühne schlurfte, um einen doppelten Rum-Cola bat und zu lesen begann; nämlich eine Geschichte aus der „alten deutschen Nacht, die kein Morgen kennt, nicht einmal den zarten Schatten der Morgenröte“.

„Es war ein Nachmittag. Ein Dienstag war’s gewesen“. Ein Wald in den späten Dreißigern. Ein Bombenangriff hatte stattgefunden. „Ein längst vergessenes Bild aus seiner verblassten Kindheit kehrte jäh wieder und wehte den grauen Schleier der Erinnerung durch sein angegriffenes Bewusstsein.“ Ein Taubstummer wird misshandelt von gefährlichem Lumpenproletariat. Rotten und Meuten; Tiere, Kollektive, Einzelgänger, Sonderlinge und Fremde tauchen auf in eindringlichen Bildern. Es ist keine leichte Literatur. Man muss sich anstrengen beim Hören, den Faden nicht zu verlieren. Harry-Hass-typische Wörter und Sätze: „so ein Rabatz“, jemanden „hopsnehmen“, „Polente“, „er saß schwer in der Falle, der Kerl“.

Nach einer halben Stunde tuschelte jemand. Und ein anderer fuhr dem Tuschler ins Wort, viel lauter, als der gewesen war. Und Harry unterbrach seine Lesung: „Ruhe bitte! Was ist denn los hier? Was gibt’s denn? Wenn jemand was zu sagen hat, soll er sofort aufstehen und sagen, was er zu sagen hat“, sagte Harry, und als niemand aufstand: „Hat keiner was zu sagen? Also soll er die Klappe halten! Störende Elemente gibt es hier überall, was? Verdammt! Soll doch runtergeh’n. Da gibt’s ne Veranstaltung gegen Drogen. Kann man nicht mal sein Haschisch in Ruhe rauchen, oder was? Haut bloß ab, bevor ich euch die Eier abschneide, aber dreifach! Und sie den Kanaken zum Fraß vorwerfe. Damit auch Allah in’n Himmel kommt.“

Der Dichter genoss seine Schimpfrede; wie das eine Wort zum anderen führte und etwas Absurdes entstand. Bei der Veranstaltung der Jungle World, die im Erdgeschoss stattfand, ging es allerdings um und gegen Anti-Dealer-Hetze. Viel Hasch lag in der Luft. DETLEF KUHLBRODT