„Amokläufe lassen sich verhindern“

Die meisten Amokläufe kündigen sich lange an, sagt der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Vor allem Mitschüler und Kommilitonen merken schon vorher, dass etwas nicht stimmt. Ihr Wissen muss man nutzen

WILHELM HEITMEYER, geboren 1945, ist Soziologe. Als Professor für Pädagogik mit Schwerpunkt Sozialisation leitete er ab 1982 verschiedene Forschungsprojekte zu Rechtsextremismus, Gewalt und ethnisch-kulturellen Konflikten. Seit zehn Jahren leitet er an der Universität Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Dort wird u. a. in einer internationalen Studie das Phänomen Amoklauf erforscht.

taz: Herr Heitmeyer, Sie leiten eine Forschungsgruppe über „Kontrolle der Gewalt“. Darin kommen auch Amokläufe vor. Was fällt an dem Ereignis in Blacksburg auf?

Wilhelm Heitmeyer: Zunächst einmal passen sie in den Trend. In den letzten Jahrzehnten haben die Amokläufe in den USA zugenommen.

Weil sich jeder Bürger mühelos Waffen beschaffen kann?

Diese Waffenkultur macht den Einsatz von Gewalt selbstverständlich. Allerdings ist auffällig, dass in den USA nur die Amokläufe zunehmen. Andere Gewalttaten wie Mord oder Raub haben sich uneinheitlich entwickelt. Neue Chancen für junge Menschen sind verbunden mit neuen Kontrollmechanismen. Diese staatlichen Regulierungen funktionieren aber nur bei „instrumenteller Gewalt“, bei der die Waffe vor allem Mittel zum Zweck ist, um etwa Geld zu erbeuten. Bei Amokläufen mit ihrer expressiven Ausrichtung hingegen gibt es wenig Vorwarnzeichen und damit versagen oft die Kontrolleingriffe. Die Tat wirkt zunächst grundlos: Das erlebt die Gesellschaft als Kontrollverlust.

Aber so spontan hat der Amokschütze Cho doch gar nicht agiert: Er hat sich Waffen gekauft und sich sogar eine kugelsichere Weste angezogen.

Die Eskalation scheint oft spontan, nicht die Planung. Bei den Amokläufern gibt es immer einen Entscheidungsprozess, der oft jahrelang dauert. Auch die Gelegenheitsstruktur ist klar: Der Amokläufer sucht sich einen Ort aus, wo zu einer bestimmten Zeit viele Menschen sind. Deswegen sind Schulen und Universitäten ja so gefährdet. Und schließlich braucht ein Amokläufer Waffenkompetenz.

Warum ist die Gesellschaft dann jedes Mal so überrascht über einen Amoklauf? Auch diesmal gab es doch Anzeichen einer möglichen Tat: Die Englischlehrerin des Amokschützen Cho war erschüttert über seine blutrünstigen Theaterstücke. Sie hat sogar die Polizei und die Univerwaltung über sein abnormes Verhalten informiert.

Das ist nicht ungewöhnlich. Die Erfahrung auch mit anderen Amokläufen zeigt: Die direkte soziale Umgebung nimmt meist vorher Auffälligkeiten beim Täter wahr.

Aber oft nicht ernst genug?

Leider, aber es gibt ja auch keine Zwangsläufigkeiten. Das macht unsicher in der Bewertung von außen. Allerdings darf man sich nicht nur auf jene Amokläufe konzentrieren, die tatsächlich stattgefunden haben. Es gibt auch viele Amokläufe, die verhindert wurden. Für die Forschung sind sie interessanter.

Warum?

Ein banaler Grund: Bei verhinderten Amokläufen leben hinterher noch alle. Bei Amokläufen tötet sich ein Drittel der Täter selbst, viele werden von der Polizei erschossen. Da müssen die Daten dann mühsam aus den Krankenakten zusammengetragen werden, um die mögliche Motivation des Amokläufers zu entdecken. Vor allem aber lässt sich an verhinderten Amokläufen erkennen, wie die Kommunikationskanäle und die Aufmerksamkeitsstrukturen beschaffen sein müssen, damit eine Gruppe einen potenziellen Amokläufer rechtzeitig erkennt. Meist wissen die Mitschüler oder Kommilitonen am besten, was läuft. Trotz allem bleibt das Problem: Die Auslöser kennen wir nicht, und damit wächst der Kontrollverlust.

Das klingt, als sollten sich die Schüler oder Studenten gegenseitig bespitzeln.

Gerade nicht. Es geht nicht um neue Überwachungsstrukturen. Das ist immer mit Misstrauen verbunden. Man braucht Vertrauen, damit die Amokläufer aus ihrer Isolation herausfinden.

Meist wird aber eine andere Form der Prävention vorgeschlagen: Man solle die Computer-Killerspiele verbieten.

Ich finde diese Spiele auch vollkommen überflüssig. Aber ein Verbot würde nichts bringen; sie würden dann eben illegal verkauft. Zudem ist die Forschung zu den Killerspielen widersprüchlich. Die einen behaupten, sie würden die Aggressivität steigern – die anderen sagen, die Spieler würden abstumpfen und gleichgültig werden. Es kommt immer darauf an, wie die jungen Männer gewissermaßen sozial „eingehegt“ sind.

Was weiß man denn über den typischen Amokläufer?

Ich bin nicht sicher, ob man von einem Typus sprechen kann. Wenn man zum Beispiel nicht aus psychiatrischer Sicht herangeht, dann ist meines Erachtens deutlich, dass Anerkennungsquellen versiegt sind und sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu verlieren drohen.

Noch mal zur Einordnung: Die EU hat errechnet, dass in Deutschland jährlich 70.000 Menschen an Feinstaub sterben. Das erregt niemanden – aber 32 Amokopfer in den USA schaffen es auf jede Titelseite.

Amokläufe wecken eben tiefe Ängste. Sie durchbrechen die Normalität und brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Denn diese Bilder symbolisieren einen Kontrollverlust, den es beim Feinstaub nicht gibt: Wir könnten ihn auch verhindern. Aber er wird als normal angesehen. Und Normalität ist sehr schwer zu thematisieren.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN