Der wahre Jesus

Als Papst hat sich Joseph Ratzinger neu erfunden und genießt erstaunliche Popularität. Doch sein Buch über Jesus ist ein Dokument der tiefen geistigen Krise des Christentums

Robert Misik lebt in Wien und schreibt für die taz, für „Falter“ und „Profil“. Zuletzt erschien von ihm „Genial dagegen. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore“ (Aufbau-Verlag). Seinen Internetblog findet man unter www.misik.at.

Vielleicht hat es doch etwas für sich, dass Kardinäle ihren bürgerlichen Namen ablegen und sich einen neuen geben, wenn sie zum Papst gewählt werden. Ein bisschen ist das immer auch eine Neuerfindung der Person. Mehr noch als für vorangegangene Päpste gilt das augenscheinlich für Benedikt XVI., vormals bekannt unter dem Namen Joseph Ratzinger.

Gewiss: Das Bild, das man sich vom „Panzerkardinal“ Ratzinger, dem schmallippigen Großinquisitor zurechtgeschnitzt hatte, war auch vor seiner Wahl zum Pontifex ein wenig mit der Axt zurechtgeschlagen. Andererseits ist er mit dem neuen Amt auch zu einem neuen Menschen geworden: Das klappt also offenbar noch im hohen Alter.

Achtzig wurde Ratzinger vergangene Woche. Und der Mann ist populär. Dabei sah man ihn doch vor zwei Jahren als Übergangspapst: alt, blass, null Emo-Faktor. Doch die Pilgerströme nach Rom sind nicht abgerissen, sondern noch einmal angeschwollen – verdoppelt hätten sie sich, ist erstaunt aus dem Vatikan zu vernehmen.

Ist das jetzt schon ein Zeichen für die von Ratzinger angestrebte „Reevangelisierung“ Europas? Nun, der Hauptgrund liegt wohl eher in der flächendeckenden Versorgung mit Billigfluglinien. Auch als Papst kann man vom Kapitalismus profitieren! Und spielend überholte Ratzinger mit seinem Buch „Jesus von Nazareth“ vergangene Woche den demnächst erscheinenden „Harry Potter“, der bisher allein dank Vorbestellungen auf dem ersten Platz der Amazon-Verkaufsliste rangiert hatte. Der Papst ist, auch dank multimediales Marketings und aufgeregten Verlagsgefuchtels inklusive Sperrfristen für Rezensionen und Ähnlichem, Nummer 1 der Bestsellerlisten.

Aber man soll darüber nicht spotten. Man kann sich als Papst den Gesetzmäßigkeiten der Entertainmentkultur ebenso wenig entziehen wie als Dichter, Kapitalismuskritiker oder als demütiger Arbeiter im Weinberg des Feuilletons. Und alles in allem ist der Pontifex ein kluger Mann, der einen auch angenehm überraschen kann. So auch mit seinem Buch. Wann hat man das schon gesehen, dass ein Papst sich vom Thron des Lehramts hinunter begibt auf das ungesicherte Feld des intellektuellen Räsonierens, ein Buch schreibt und gleich auf den ersten Seiten zu Kritik einlädt? Sein Buch, schreibt der Papst, sei „in keiner Weise ein lehramtlicher Akt“. Es stehe „daher jedermann frei, mir zu widersprechen“.

Nun, freundliche Einladungen von Päpsten soll man, zumal als höflicher Mensch, nicht missachten. Ratzingers Jesus-Buch ist, man muss das so deutlich sagen, ein Dokument der tiefen geistigen Krise des Christentums. Wenn der Boden so schwankend ist, auf dem sich der Katholizismus heutzutage bewegt, wie es nach Lektüre dieses Bands den Anschein hat, dann muss man sich als Agnostiker vor der Rechristianisierung Europas nicht fürchten.

Denn was versucht der Papst mit seinem Buch? Er will einerseits das „christliche“ Jesusbild retten angesichts der publizistischen Welle von „Entdeckungen“ über den realen Jesus. Und andererseits will er beweisen, dass diese christliche Jesusbotschaft die wichtigste Ressource ist, um den Niedrigkeiten des Zeitgeistes zu widerstehen.

Gerade in diesem Kern aber ist Ratzingers Buch erstaunlich schwach. Als intelligenter Mann kann Ratzinger die „historisch-kritische“ Methode, die das Reale der Jesusgeschichte von späteren Hinzufügungen scheiden will, die sich mit der Redaktionsgeschichte des Neuen Testaments befasst, weder negieren noch abtun. Aus dieser Sicht war Jesus von Nazareth ein jüdischer Rabbi, der sich als der versprochene Messias sah – als der den Juden verheißene Nachkomme Davids. Er war eine Art sanfter Revolutionär, der die Volksfrömmigkeit gegen die etablierten, korrupten religiösen Autoritäten in Jerusalem stellte.

Wenn der Boden so schwankend ist, muss man Europas Rechristianisierung nicht fürchten

Vor allem aber war er ein jüdischer Prophet und nicht der Stifter einer neuen Religion. Auch wenn die Universalisierung des bisher nur jüdischen Gottes gewiss zu seiner Botschaft zählte – aber auch das ist gar nicht so spektakulär. Denn der Glaube daran, dass der Gott Israels zum Licht aller Völker werde, gehörte auch vor Jesus zum Grundbestand jüdischer Prophetie. Außerdem wimmelte es im messianisch überspannten 1. Jahrhundert nur von solchen Propheten-Gestalten.

All diese Erkenntnisse, die neuerdings für Bestseller sorgen und die Titelseiten der bunten Blätter zieren („Der wahre Jesus“, Amazon-„Die Jesus-Dynastie“ etc.), stellen natürlich eine immense Bedrohung für die christliche Orthodoxie dar. Denn sie zeigen, dass das Neue Testament ziemlich brutal redigiert worden ist.

Ratzinger räumt nun ein, dass die Worte des Neuen Testaments gewiss „Menschenworte“ seien. Aber dass sie, so schreibt er, einen „Mehrwert erahnen“ lassen – dass sie mehr in sich tragen, als selbst den Autoren bewusst gewesen sein mag. Das ist schon wahr, aber eine recht schwache Abwehrstrategie: Schließlich gilt das für jeden Text, dass er, einmal in die Welt gesetzt, ein eigenes Leben führt.

Jedenfalls ist es eine recht dünne Basis zur Propagierung der Überzeugung, dass der Jesus des Neuen Testaments der „wahre“ Jesus sei – egal, wie viel die Evangelisten, Paulus als erster „Chefideologe“ und seine Nachfolger, daran herumgedoktert haben. Und die Frage steht förmlich im Raum: Kann man es sich wirklich so leicht machen?

Dennoch: Entsprechend dieser fragwürdigen Prämisse unterzieht der Papst dann das Neue Testament einer Neulektüre. All das ist voll von klugen theologischen Abstraktionen, und meist kommt er auch zu recht sympathischen Schlüssen. Ratzinger interpretiert die berühmten Passagen der Bergpredigt, etwa von der Seligkeit der Armut als geistiger Haltung, als asketischem Ideal von der Seligkeit derer, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit.

Anfangs sah man ihn als Übergangspapst: alt, blass, null Emo-Faktor. Jetzt führt er Bestseller-Listen an

Der Fluchtpunkt seiner Lektüre ist es, seine Kirche als dissidente, gegenstrebende Kraft in der Gegenwart zu verankern. Immer wieder ruft er aus, wie aktuell das Ganze doch sei: dass man sich „der Kultur des Habens“ entgegenstellen soll, „dem Diktat der herrschenden Meinungen“ nicht beugen möge. Entfremdet sei der Mensch in einer Welt, „in der es nur auf Macht und Profit ankommt“.

Da hat er schon recht, der Papst. Aber das sieht jeder 16-jährige Juso-Aktivist exakt genauso und Oskar Lafontaine auch – bloß, dass nicht einmal der es wagen würde, das derart plump zu formulieren. Und die benötigen dafür auch keine exegetischen Abstraktionen.

Warum genau braucht man für ein solches „Wertefundament“ also Gott und Jesus? Im Grunde fragt man sich, ob dieses Buch nicht ein einziges Dementi der behaupteten Sinn-Ressource Religion ist. Die Papstposition erweist sich jedenfalls nicht als besonders sinnstiftend. Eher frappiert die Diskrepanz zwischen der exegetischen Intellektualität von Ratzingers Bibellektüre und seiner appellativen Kapitalismuskritik. Für den Buchhandel ist’s jedenfalls ein gutes Geschäft. ROBERT MISIK