Sein und Haben

Die deutsche Wirtschaft boomt, doch die große Mehrheit der Bevölkerung profitiert nicht mehr von ihren Wachstumsgewinnen. Das wird die Republik auf Dauer nicht aushalten

Ulrike Herrmann ist wirtschaftspolitische Korrespondentin der taz. Zu ihren Schwerpunkten gehören Arbeitsmarkt, Sozialpolitik und Finanzen. Immer wieder hat sie sich mit den Folgen der Arbeitslosigkeit für die Gesamtgesellschaft befasst.

Die deutsche Wirtschaft wächst. Aber es stellt sich nicht mehr das Gefühl der wohligen Normalität ein, das einen Konjunkturaufschwung früher so verlässlich begleitet hat. Mitten im Boom bleibt die Stimmung verhalten, obwohl die Zahl der Arbeitslosen auf unter 4 Millionen gesunken ist. Die Bundesrepublik erlebt den seltsamsten Wachstumsschub ihrer Geschichte. Dieser Aufschwung steht nicht mehr für die Expansion des Gehabten und Bekannten, sondern für das Ende einer Epoche.

Dieser Wandel zeigt sich bereits statistisch: Im letzten Jahr wuchs die Wirtschaft um 2,7 Prozent, doch im Portemonnaie der Beschäftigten kam davon gar nichts an. Stattdessen lagen ihre nominalen Lohnzuwächse sogar noch unter der Inflationsrate. Mitten im Boom haben sie real an Einkommen verloren. Das gab es bisher nicht in Deutschland und das ist selbst in der neoliberalen Theorie nicht vorgesehen. Auch dort soll der berühmte „Gürtel“ nur in Krisenzeiten „enger geschnallt“ werden. Doch jetzt wird auch in fetten Jahren der Bauch eingezogen.

Die Deutschen leben in einer eigenartigen Spannung, wie alle Umfragen zeigen. Optimistisch glauben sie, dass die Wirtschaft weiter wachsen wird. Aber pessimistisch nehmen die meisten an, dass sie selbst nicht davon profitieren. Dieser neue Widerspruch zwischen Sein und Haben zeigt sich auch in den Großkonflikten, die derzeit innenpolitisch dominieren: ob bei den Tarifverhandlungen, bei der Telekom oder bei der Endlos-Debatte um den Mindestlohn.

Oberflächlich betrachtet scheinen die tradierten Streikrituale noch zu funktionieren. Es klingt gewohnt bombastisch, wenn die IG Metall 6,5 Prozent mehr Lohn fordert. Aber das ist Show. Tatsächlich ist höchstens eine 4 vor dem Komma zu erwarten. Schließlich konnten in der reichen Chemiebranche auch nur 3,6 Prozent sowie eine Einmalzahlung von 0,7 Prozent herausgehandelt werden.

Vor allem aber bedeuten diese Abschlüsse in der Metall- und Chemieindustrie gesamtgesellschaftlich wenig. Es sind privilegierte Branchen, die vom weltweiten Exportmarkt profitieren. Im bundesweiten Durchschnitt werden die Löhne nominal nur um etwa 2 Prozent steigen, hat der DGB-Chefökonom Dierk Hirschel vorgerechnet (taz vom 13. 4.). Die Gründe für diesen „negativen Lohndrift“ sind unterschiedlich: Einige Betriebe sind aus der Tarifbindung ausgestiegen, andere nutzen tarifliche Öffnungsklauseln oder streichen übertarifliche Leistungen. Hinzu kommen die Minijobs, die selbst im Boom nicht weniger werden. Längst sind auch die Akademiker betroffen, so haben etwa viele angestellte Architekten in den letzten zehn Jahren gar keine Gehaltserhöhung mehr erlebt. Auch wenn jetzt offiziell nur noch knapp 4 Millionen Menschen arbeitslos sind: Dieses Wissen macht fast jeden Arbeitnehmer erpressbar.

Besonders hilflos agiert momentan die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die auf einen Streik bei der Telekom zusteuert. Die Konzernführung will die Löhne um 9 Prozent senken, gleichzeitig soll die Wochenarbeitszeit um vier Stunden steigen. Denn seit Jahresbeginn sind wieder etwa 600.000 Telekom-Kunden zu Billiganbietern abgewandert, die ihre niedrigen Personalkosten in niedrige Preise ummünzen. Übrigens zahlen viele dieser Firmen nach Tarif – nur liegen diese Löhne oft eben unter dem Telekom-Niveau. Der Begriff Dumpinglöhne verliert seine ideologische Schärfe, wenn sie von Gewerkschaften ausgehandelt werden.

Diese irre Logik der Machtlosigkeit setzt sich fort bei der Mindeslohn-Debatte. Ver.di fordert 7,50 Euro pro Stunde. Allerdings fiel öffentlich bald auf, wie seltsam es doch ist, dass Ver.di selbst Tarifverträge abgeschlossen hat, die etwa für Friseure in Sachsen nur 3,06 Euro vorsehen. Wieder lautet das nachvollziehbare Ver.di-Argument, dass es ohne Tarifvertrag noch schlimmer gekommen wäre.

Die Symboldebatte um die Managementgehälter verschleiert, dass die Macht bei den Aktionären liegt

Längst haben sich auch alle Parteien in die Mindestlohn-Debatte gestürzt. Dabei ist wieder das eigenartige Phänomen zu beobachten, dass ausgerechnet jetzt vehement über ein Instrument der Krisenintervention debattiert wird, obwohl die Wirtschaft doch boomt. Aber die deutschen Löhne sind eben absurd niedrig. 602.000 Menschen haben normale Jobs – und verdienen doch so wenig, dass sie Arbeitslosengeld II beziehen. Illustrativ sind auch Anekdoten von der Spargel-Front: Manche Polen verzichten lieber darauf, sich über deutsche Äcker zu beugen. Es lohnt sich einfach nicht.

Deutschland ist inzwischen weltweit einmalig und zu einer Art Mischung aus Schweden und Rumänien mutiert. Einerseits ist die Bundesrepublik hochtechnisierter Exportweltmeister, andererseits sind seine Niedriglöhne fast nur noch für Ukrainer attraktiv. Deutschland hat es zu einer doppelten Konkurrenzlosigkeit gebracht: als Exportnation und als eine Oase für Lohndumping. Dieser Widerspruch zerreißt die Gesellschaft.

Und nun? Die Linkspartei hat eine Lösung: Sie verlangt ein Gesetz, das die Gehälter der Manager auf das 20fache des Durchschnittslohns begrenzt. Warum nicht. Aber die Partei scheint diesen Vorschlag als Beitrag zum Klassenkampf zu verstehen. Das ist absurd, denn auch Manager sind Angestellte. Sie sind zwar sehr gut dotiert, aber trotzdem gehören sie in das Heer der abhängig Beschäftigten, wie der schnelle Abgang des Siemens-Chefs Klaus Kleinfeld gezeigt hat.

Diese Symboldebatte um die Managementgehälter verschleiert, dass die wahre Macht bei den Aktionären liegt, bei den Kapitalbesitzern. Das ist eine sehr überschaubare Gruppe in Deutschland. Nur 15,3 Prozent aller Bundesbürger verfügen über Aktien. Zieht man die vielen Klein-Investoren ab, dann bleiben etwa jene 1,7 Prozent aller Haushalte übrig, die rund 74 Prozent des gesamten deutschen Produktivvermögens besitzen. Sie allein profitieren jetzt vom Aufschwung. Aber diese Kapitalbesitzer sind weitgehend anonym. Ihre angestellten Manager hingegen sind so viel häufiger in den Medien und daher so viel geeigneter, die geballte Frustration auf sich zu ziehen. Nicht nur bei der Linkspartei, auch bei der Bild-Zeitung.

Diese fehlgelenkte Wut ist symptomatisch. In Deutschland gilt es als unfein, die Eigentumsverhältnisse zu thematisieren. Der prominente Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat die Deutschen daher eine „verschämte Klassengesellschaft“ genannt.

Diese irre Logik der Machtlosigkeit setzt sich fort bei der Debatte um den Mindeslohn

Bisher galt die gesellschaftliche Übereinkunft, dass Eigentum nicht angetastet wird, sondern dass nur die Wachstumsgewinne verteilt werden dürfen. Jetzt erlebt die Mehrheit der Bevölkerung erstmals, dass sie selbst von diesen Wachstumsgewinnen nicht mehr profitiert. Damit ist letztlich der Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, auf dem die Demokratie der Bundesrepublik beruht hat.

Und was ist jetzt die Lösung?! Auf diese ungeduldige Frage gibt es keine einfache Antwort. Es handelt sich schließlich um einen Vorgang, der kein historisches Beispiel kennt. Die Gesellschaft muss sich neu erfinden. Nicht weniger. ULRIKE HERRMANN