Comic: Tim, Struppi und die Deutschen

Vor 100 Jahren wurde Hergé geboren, der Schöpfer von "Tim und Struppi". In seinen Comics reflektiert der Belgier sein Verhältnis zu Deutschland.

"Tim und Struppi im Land der Sowjets": Tin Tin reist gen Osten Bild: DPA

Seine Fußabdrücke finden sich in der arabischen Wüste, auf dem Meeresgrund der Karibik und auf den Schneegipfeln des Himalaya, ja er wagt sogar - 16 Jahre vor Neil Armstrong - "Schritte auf dem Mond". Deutschland betritt der Brüsseler Berufsreporter Tim im Laufe der 22 Farbbände allerdings nur einmal, für die kurze Zeit eines Tankstopps auf einem Rollfeld bei Frankfurt. Bleibt also Deutschland ansonsten ein weißer Fleck auf der tintinophilen Weltkarte?

Ganz im Gegenteil. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind für Tim und vor allem seinen Schöpfer Hergé die Deutschen von Anfang an präsent. Und ambivalent.

Ohne die Deutschen hätte Hergé vielleicht sogar nie zum Zeichnen gefunden. Im Ersten Weltkrieg ist Brüssel besetzt, die Deutschen marschieren und die Pickelhauben bohren sich tief in das Bewusstsein der Bevölkerung. Beeindruckt ist auch der kleine Georges Remi - später bekannt unter seinem Initialpseudonym R.G., französisch ausgesprochen "Her-gé" - ein mittelmäßiger Schüler, der sich mit Kritzeleien in seinen Schulheften ablenkt. Plötzlich entstehen daraus Geschichtchen, stumme Comicstrips, die von deutschen Soldaten handeln und den vielen Streichen, die ein kleiner Steppke ihnen spielt. Hefte und Geschichten sind verschollen, aber Hergé sollte sich deutlich genug an die gezeichnete Erzähltechnik erinnern, um sie als Grundstein seines Werkes zu bezeichnen.

Dass Deutsche in Comics meistens als dumpfe Krieger dargestellt werden, hat Tradition. War es ein Flugzeug, das da im Februar 1940 auf den deutschen "Westwall", die sogenannte "Siegfriedlinie" an der Grenze zu Frankreich zuraste? Nein, es war natürlich "Superman", im Einsatz gegen die Nazis (und Bolschewisten: später liefert Superman Hitler und Stalin im Doppelpack beim Internationalen Gerichtshof ab). Der Hund Snoopy von den "Peanuts" träumt davon, als Kampfflieger im Ersten Weltkrieg den Roten Baron zu jagen. "Asterix" trifft nicht nur in " ... bei den Goten" auf Deutsche - die vertrottelten römischen Besatzer Frankreichs stehen eigentlich für die Wehrmacht. Nur bei den "Simpsons" kündigt sich ein Wandel an: da verabschiedet sich der unsympathische Deutsche, er müsse heute noch "nach Stuttgart auf's Kraftwerk-Konzert".

Im ersten Abenteuer des Tintin-Zyklus, "Tim im Land der Sowjets" von 1929/30, besuchen Tim und Struppi kurz Berlin - beinahe inkognito. Denn dieser von Hergé als "Jugendsünde" bezeichnete Schwarz-Weiß-Band wird quasi von der Werkliste gestrichen und zählt erst seit seinem Tod 1983 wieder dazu. Das Bild der Deutschen ist trotzdem aufschlussreich. Einerseits bleibt der deutsche Schutzpolizist böse und borniert, Tim wird unschuldig verhaftet. Andererseits lernt Tim den Russen aus der Nähe kennen, und im Vergleich dazu sind ihm die Berliner doch lieber - Krieg hin, Krieg her -, betrunken und untergehakt singt er mit ihnen bis in die Nacht. Dieses erste Abenteuer erscheint in der Jugendbeilage der erzkatholischen Zeitung Le Vingtième Siècle. Der Herausgeber gibt dem 21-jährigen Hergé eine klare politische Aussage zu illustrieren: Wenn es gegen die Bolschewisten geht, sind sogar die Deutschen unsere Freunde!

Sommer 1938. Hergé kann längst auch über die Inhalte seiner Tintin-Abenteuer bestimmen. Europa hat sich verändert, Belgien fürchtet nun mehr die Deutschen als die Sowjets. Zwei Jahre vorher hatte sich die unverhohlen pronazistische Rexistenbewegung auch als Partei gegründet und auf Anhieb zwanzig Parlamentssitze erhalten. Wie wird man in Eupen und Malmedy auf den anschwellenden Lockruf "Heim ins Reich" reagieren, wo diese deutschen Gemeinden erst seit dem Versailler Vertrag zu Belgien gehören? Österreich hat den sogenannten "Anschluss" gerade vorexerziert. Blüht Belgien nun das gleiche Schicksal? In "König Ottokars Zepter" behandelt Hergé diese Angst - parabelhaft und räumlich so offensichtlich in die Ferne transponiert wie in Giraudoux "Der Trojanische Krieg findet nicht statt": Im fiktiven Osteuropa, in Syldavien, vereitelt Tim eine Verschwörung, welche die Annexion des Landes durch den militaristischen Nachbarstaat Bordurien vorbereitet. Die gerettete friedliebende Monarchie Syldavien ist Belgien, der aggressive Nachbar Bordurien fliegt nicht zufällig Heinkel-Jäger und wird von einem Führer namens Müsstler regiert, Hitler halb versteckt hinter Mussolini.

Begleitet das Herrchen nach Moskau: Struppi Bild: dpa

Belgien wird nicht wie Österreich angeschlossen, sondern überfallen. Aber auch so finden sich genügend Kollaborateure, die sich mit den bordurischen, pardon, deutschen Herren im Land glänzend arrangieren. Und trotz der Brandmarkung in "Ottokars Zepter" zählt Hergé viele von ihnen zu seinem Freundeskreis. Der öffentliche Kontakt mit Kollaborateuren und seine Zeichnertätigkeit für die vom Besatzer kontrollierte Zeitung Le Soir bringen Hergé nach dem Krieg vorübergehendes Veröffentlichungsverbot und beinahe einen Kollaborationsprozess ein. Erst durch Gründung eines eigenen Verlages mit dem Resistancekämpfer Raymond Leblanc kann der sich selbst als apolitisch bezeichnende Hergé Tim und Struppi wieder in neue Abenteuer schicken.

Um in zwei Bänden 1950/52 zum Mond zu gelangen, steigt die Tintin-Familie in die legendäre rot-weiße Rakete - ein eindeutiges Zitat der deutschen V2, berüchtigt durch ihre Angriffe auf das belgische Antwerpen. Noch überraschender vor dem Hintergrund der Kollaborationsvorwürfe gegen Hergé ist aber eine zentrale Figur mit unmissverständlich deutschem Namen: Frank Wolff. Dieser gute, aber blasse Mensch wird von ungenannten Mächten zu Spionage und Sabotage erpresst. Er soll dem Leben von Tim und seinen Freunden ein Ende setzen, und nur Zufall und Feigheit ersparen ihm diese Taten.

Als beim Rückflug zur Erde der Sauerstoff knapp wird, opfert sich Wolff heldenhaft und verlässt die Rakete ins All - zieht Hergé hier Parallelen zu etwaigen Kollaborateuren? Viele solchermaßen Angeklagte führten an, von den Umständen gezwungen worden zu sein und immer nur das Beste für ihr Vaterland im Sinn gehabt zu haben.

In Deutschland Kinderkram - in Frankreich berühmt Bild: dpa

Ab den 50ern verschiebt sich der geopolitische Rahmen der weiteren Abenteuer weg von Deutschland. Trotzdem werden Tim und Struppi in der BRD weiterhin frostig empfangen - und in der DDR gleich gar nicht. Noch 1971 beschwert sich Hergé über die schleppende Rezeption: "Mein Verleger sagte mir, daß dort endlich Bewegung reingekommen ist. Es scheint, als hieße es jetzt, wenigstens für meine Alben: Deutschland erwache (auch im Original auf Deutsch, Anm. d. Red.)."

In der Tat erscheinen die ersten Übersetzungen von Tintin erst 1967, nach langem Sträuben der deutschen Verlagswelt. Auch heute noch werden sie nur mit Pappdeckel versehen über den Zeitschriftenvertrieb verkauft, um bloß nicht mit richtigen Büchern verwechselt zu werden. Wie Hergé zu Deutschland, hat auch Deutschland zu Hergé kein unbelastetes Verhältnis. Ein Grund mehr, ihn heute gebührend und versöhnlich zu ehren.

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