Debatte: Gefahren des Tagelöhnertums

Der Streit über den gesetzlichen Mindestlohn hat eine fatale Nebenwirkung: Er verschiebt die Maßstäbe für einen angemessenen Lohn nach unten. Das darf nicht sein

1.500 Euro netto. So hoch ist in den alten Bundesländern das Durchschnittseinkommen von Alleinstehenden. Auf dieses Gehalt kommen nach 14 Jahren Berufstätigkeit etwa die PostzustellerInnen, die neulich zu einer Demonstration der Gewerkschaft Ver.di angereist waren. Wie tausende andere Beschäftigte der Deutschen Post AG, wie viele Mitarbeiter der Telekom haben sie Angst vor den Einkommenseinbußen, die ihnen drohen, wenn sie von anderen Servicefirmen übernommen werden.

In der Tat: 1.500 Euro netto für eine Tätigkeit, die nicht zwingend eine aufwendige Ausbildung erfordert, die tausende auch für weniger Geld machen würden - das mag manchem angesichts von Millionen Niedriglohnempfängern fast als luxuriös erscheinen. Schließlich ist der von den Gewerkschaften geforderte Mindeststundenlohn von 7,50 Euro brutto derzeit ein hohes sozialpolitisches Ziel. Ein Durchschnittseinkommen gilt nicht zuletzt vielen Arbeitgebern schon heute als Besitzstand, den man auflösen kann. Der SPD-Abgeordnete Klaus Barthel warnt zu Recht davor, dass der Niedriglohnsektor plötzlich zum "Maß aller Dinge" wird.

Diese Entwicklung schreckt in Deutschland die untere Mittelschicht, denn sie muss eine soziale Deklassierung fürchten und den Verlust von Sicherheiten wie einer unbefristeten Beschäftigung oder einer tariflicher Absicherung, die vor sinkenden Einkommen im Lebensverlauf schützt. Genau diesem Einkommenssegment zwischen Mindestlohn und Durchschnittseinkommen sollte daher die Politik mehr Augenmerk schenken. Denn die aktuelle Mindestlohnpolitik verschiebt die Maßstäbe für einen angemessenen Lohn und akzeptable Arbeitsbedingungen - nach unten.

Im Westen haben 42 Prozent der vollzeitbeschäftigten ArbeiterInnen und Angestellten ein Einkommen von weniger als 1.300 Euro netto, im Osten fallen sogar 77 Prozent in diese Gruppe, sagt der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes. Der Löwenanteil dieser Erwerbstätigen verdient zwischen 900 Euro und 1.300 Euro netto - bewegt sich also in einem Segment, in dem sich durch einen Mindestlohn von 7,50 Euro brutto die Stunde so gut wie nichts verbessern würde. Denn: Mit solch einem gesetzlichen Mindestlohn käme ein alleinstehender Arbeitnehmer gerade mal auf rund 920 Euro netto im Monat.

Nicht nur das Auto und die Urlaubsreise, sondern vor allem eine planbare Zukunft und das Wissen um eine Altersversorgung über Armutsniveau sind gefährdet. Der Münsteraner Soziologe Olaf-Groh Samberg warnt vor der Entstehung eines neuen "Dienstleistungsproletariates", da beispielsweise die Armutsrisiken für "einfache Dienstleister" wie VerkäuferInnen und Reinigungspersonal in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Die Armut wächst und das macht Angst, auch jenen, die noch ein paar hundert Euro Einkommen im Monat über der Armutsgrenze liegen.

Die Sorge vor dem Abstieg macht sich dabei an ganz realen Entwicklungen fest. Die prozentual höchsten Zuwachsraten bei der Beschäftigung verzeichnet die Zeitarbeit. Jede dritte der neu geschaffenen Stellen sei ein Job in der Zeitarbeit, heißt es beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Neuerdings gründen sogar manche Industrie- und Dienstleistungsunternehmen als Tochterbetriebe Zeitarbeitsfirmen. Dies ermöglicht ihnen, die eigenen Mitarbeiter erst zu entlassen und dann nur noch zum Zeitarbeitstarif einzustellen, der in der untersten Gruppe zwischen sechs und sieben Euro die Stunde liegt.

Die Leiharbeit wird damit zu einer Arbeitsform, die die Deklassierung als definierendes Merkmal in sich trägt. Sie wird zu einer Beschäftigungsform, die einer "Proletarisierung", einem "Tagelöhnertum" schon sehr nahe kommt, weil Jobsuchende dabei ihre Arbeitskraft unmittelbar vermarkten müssen, häufig den Einsatzort wechseln und sich keinem Betrieb mehr zugehörig fühlen.

Der Generalangriff auf das Identitätsgefühl der unteren Mittelschichten aber ist die Entwicklung im Rentensystem, deren Auswirkungen vor allem die heute noch unter 45Ährigen spüren werden. Der Sozialverband Deutschland warnte kürzlich davor, dass selbst Durchschnittsverdiener in einigen Jahrzehnten nach 37 Jahren Berufstätigkeit nur noch auf eine Rente kommen werden, die auf dem Niveau von Hartz IV liegt, also einer Kaufkraft von derzeit 650 Euro. Geringverdiener würden auch mit 45 Jahren Ackerei keine Rente erreichen, die das Hartz-IV-Niveau erreicht.

Wenn aber ein Arbeitseinkommen nicht mehr genügt, im Alter von der gesetzlichen Rente armutsfrei zu leben, dann wird auch klar: Erwerbstätige müssen genug verdienen, um auch privat noch Geld fürs Alter zurücklegen zu können. Ein Überlebenslohn reicht daher heute nicht aus. Sonst könnten sich viele Bescheidenverdiener die Frage stellen: Warum überhaupt in das Rentensystem einzahlen, wenn auch Hartz-IV-Empfänger im Alter durch die Grundsicherung das gleiche Geld bekommen?

Durchschnittsgehälter für einen Servicejob wie den des Postzustellers mit Kündigungsschutz, tariflicher Würdigung der Betriebszugehörigkeit und biografischer Planungssicherheit könnten in einigen Jahren der Vergangenheit angehören, einfach weil es garantiert immer noch tausende gibt, die den gleichen Job billiger machen und daher die entsprechenden Absicherungen bröckeln.

Nach einer unlängst veröffentlichten Untersuchung des Forschungsinstituts Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn klaffte die Lohnschere in Westdeutschland in den Jahren 1991 bis 2001 weiter auseinander als bislang vermutet. Dies führen die IZA-Forscher unter anderem darauf zurück, dass der Anteil der von Tarifverträgen betroffenen Arbeitnehmer in Westdeutschland in den Jahren 1995 bis 2005 um rund 16 Prozent zurückgegangen ist. Es hat also Folgen, wenn die gewerkschaftliche Macht schwindet.

Angesichts einer Mindestlohndebatte, die sich wohl zum nächsten Wahlkampfthema entwickelt, muss daher die politische Wahrnehmung geschärft werden: Es darf nicht sein, dass kleinbürgerliche Existenzen im guten Sinne, also eine Kultur der materiellen Sicherheit und Verlässlichkeit, plötzlich als Besitzstand erscheinen, die fast schon ungerecht privilegiert wirkt angesichts der Millionen von Erwerbstätigen, die für fünf Euro Stundenlohn Zimmer putzen oder kellnern - und jetzt von der Politik als Klientel für die Mindestlohndebatte ausgemacht wurden.

Es ist psychologisch gesehen ein ziemlicher Unterschied, ob man zum Mindestlohn ackert oder ob man mit einem erwartbaren unteren Durchschnittslohn als Briefzusteller, Speditionsfahrer oder Verkäuferin wenigstens ein bisschen eigene Zukunftsvorsorge treffen kann. Die etwas weniger Schwachen dürfen nicht gegen die ganz Schwachen ausgespielt werden. Und diese Gefahr besteht heute mehr denn je.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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