Ein Experte fürs Überleben

Die Dinge aus dem „Damals“ werden weniger: Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit hat Ralf Hagelstein alle Reserven aufgebraucht. Mit dem Hartz IV-Regelsatz, sagt er, kann man nicht auskommen

VON LISA THORMÄHLEN

Die Brille ist schlicht, aber edel. Ein schwarzes Gestell mit eckigen Gläsern, „noch von Fielmann“. 200 Euro hat sie damals gekostet. Das war vor drei Jahren. Dann endete das „Damals“ abrupt: Ralf Hagelstein wurde arbeitslos. Die Dinge, die von „damals“ erhalten geblieben sind, werden weniger. Die Brille gehört dazu. Und die Schuhe. Aber die kommen nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank. 220 Euro haben sie gekostet. „So viel gebe ich jetzt nicht einmal für Essen im Monat aus.“ Seit zwei Jahren müssen Ralf Hagelstein 345 Euro zum Leben reichen. Tun sie aber nicht. „Überleben kann man“, sagt er, „aber das ist alles.“ Der größte Teil des monatlichen Hartz IV-Satzes landet bei Aldi. 200 Euro gibt er im Durchschnitt für Lebensmittel aus. Ungefähr 132 Euro sind im Regelsatz vorgesehen. Aber unter 200 Euro im Monat zu bleiben, ist schwierig. „Ich will gesund essen“, sagt Hagelstein. „Ich koche immer frisch.“ Früher sei er jeden Mittag ins Restaurant gegangen.

Manchmal spart sich Hagelstein einen Zehner für Benzin ab. Ein Auto hat er – „noch“. Es ist ein Luxus, den er sich nur schwer leisten kann. Versicherungsschutz wie eine private Haftpflicht oder eine Krankenzusatzversicherung ist längst gestrichen. „Man darf einfach nicht krank werden.“ Auch im Café war Hagelstein seit zwei Jahren nicht. Für „Freizeit, Unterhaltung und Kultur“ sind im Regelsatz knapp 40 Euro vorgesehen. 8,50 gibt Hagelstein aus: Er hat die Samstagsausgabe des Hamburger Abendblatts im Abonnement – hauptsächlich wegen der Stellenanzeigen.

Der Regelsatz passt für Ralf Hagelstein vorne und hinten nicht. Er hat seine Ausgaben penibel aufgelistet. Im Schnitt kommt er auf 348,50 Euro im Monat – 3,50 Euro mehr, als er bekommt. Und dabei verzichtet er schon auf alles, was gesellschaftliches Leben ausmacht.

Das macht einsam. Der Jobverlust stürzte Hagelstein in eine Sinnkrise. „In meinem Beruf habe ich gelernt, mich selbst zu motivieren. Deshalb habe ich angefangen, mich zu beschäftigen“, sagt er. „Ich wollte mich nicht mehr verstecken. Dazu gibt es keinen Grund.“ Hagelstein wurde Experte für Hartz IV und seine Folgen. Er begann, anderen zu helfen. Hilfe zur Selbsthilfe hat sich der Verein „peng“ zur Aufgabe gemacht, den Hagelstein mitgegründet hat. „Wir füllen keine Anträge für ALG-II-Empfänger aus, aber wir erklären ihnen, wo sie Antworten finden.“ Ein eingetragener Verein ist „peng“ nicht: „Wer soll denn das bezahlen?“

Für Hagelstein ist es selbst schwer zu glauben, was er sich früher leisten konnte. Wenn er von seinen Reisen nach Kuba und Thailand oder von einem gemeinsamen Nettoeinkommen von 4.000 Euro im Monat spricht, bekommt er glänzende Augen. Von einem Wochenendtrip nach Rügen ins Hotel Steigenberger schwärmt er. Schnell wird er wieder bitter: „Job weg, Frau weg, das geht schnell.“ Natürlich sei die Arbeitslosigkeit nicht der einzige Grund für die Trennung gewesen. Aber auch nicht unschuldig daran.

Seine Erwerbsbiografie kann Hagelstein im Schlaf herbeten. Im Schnitt schreibt er jede Woche eine Bewerbung. Er hat Flugzeugbauer gelernt. Mit 30 hat er sich zum Industriekaufmann umschulen lassen. Danach war er zwölf Jahre lang Filialleiter in wechselnden Einzelhandelsunternehmen. Jeder Wechsel brachte eine bessere Stellung, höheres Gehalt. Bis vor drei Jahren plötzlich Schluss war. Nach der Insolvenz seines Arbeitgebers bekam Hagelstein ein Jahr lang Arbeitslosengeld. Bis auf einen kurzzeitigen Nachtwächterjob war keine neue Anstellung in Sicht. Dabei ist Hagelstein flexibel: „Wenn mir die Arge sagt, fangen Sie am Montag in Rostock an, bin ich da.“ Doch die Arbeitsgemeinschaft aus Arbeitsagentur und der Hamburger Wirtschaftsbehörde scheint sich für Hagelstein nicht zu interessieren. Kein einziges Angebot habe sie ihm bisher gemacht.

Verständlich vielleicht, denn Hagelstein ist ein sehr unangenehmer Kunde. „Ein-Euro-Jobs sind Zwangsarbeit“, verkündet er zum Beispiel. Es ärgert ihn, dass Arbeitslose als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet werden. „Es wird das Bild suggeriert, weil ich arbeitslos bin, bin ich auch ungebildet, ein Penner und ein Säufer.“ Dabei habe er die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gelesen. Mit der „neuen Unterschicht“ könne er sich nicht identifizieren. „Am ehesten finde ich mich bei der intellektuellen Bildungselite wieder.“ Für Bildung ist im Regelsatz aber kein Geld vorgesehen.

Für Ralf Hagelstein verschlechtern sich mit jeder abgelehnten Bewerbung die Aussichten auf einen neuen Arbeitsplatz. „Ich würde gerne wenigstens einen Volkshochschulkurs besuchen, um mein Englisch aufzufrischen“, sagt er. In Bremen wird für solche externen Kurse bezahlt, in Hamburg nicht.

Ralf Hagelstein hofft immer noch auf einen neuen Job. Und dass Brille und Schuhe noch lange halten. „Mein Sparbuch ist jetzt bei Null. Das letzte Kleidungsstück habe ich mir im April gekauft.“ Einen Rollkragenpulli bei Plus, für 6,99 Euro.