Unbekannte Orte (8): Der Leuchtturm der Großstadt

Millionen Touristen waren schon auf dem Fernsehturm, Millionen Berliner noch nie. Eine der Ignorantinnen gibt nach und beglotzt die Stadt aus der Höhe.

Publikumsmagnet und Orientierungspunkt Bild: Reuters

Der Fernsehturm ist irre faszinierend, vor allem Samstagnacht. Er ist die Rotationsachse, wenn ich mit meiner Schrottkarre von einem In-Club zum anderen heize. In Schlangenlinien am Alex vorbei mit Affentempo auf den Prenzlberg. Die silberne Diskokugel hoch über der Stadt mit ihrem grell blinkenden Signallicht, die will ich sehen. "Berlin, was biste cool", denke ich dann im Vollrausch und meine eigentlich mich. Ich bin ja so irre froh, in einer megahippen Metropole zu wohnen.

Das sagt "berlin.de": "Der 1965-69 erbaute Telespargel stand auch für die politisch-wirtschaftliche Macht der sozialistischen Republik."

Das sagt der "Lonely Planet": "Von der Panormaplattform in luftigen 203 Metern Höhe kann man alle Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt erkennen, über die Größe des Tiergartens staunen und die ehemaligen Ost- und Westteile Berlins überschauen."

Öffnungszeiten: Täglich von 9 bis 24 Uhr (im Sommer). Eintritt: 8,50 Euro für Erwachsene, Kinder 4 Euro.

Nächsten Freitag: Rene Hamann über das Schloss Charlottenburg.

Und jetzt stehe ich vor ihm, dem Symbol für mein rasantes Leben - und bin enttäuscht. Am helllichten Tag ist der Glamour vorbei. Stattdessen bedroht mich ein grauer Betonsockel und die "Rache des Papstes" - so nennt manch Berliner die Reflexion in Form eines Kreuzes, die immer dann entsteht, wenn die Sonne die Kugel aus rostfreiem Stahl anstrahlt. Die Legende will es so: Das Kreuz hat die atheistisch eingestellte DDR-Regierung so geärgert, dass die Stasi anfänglich versuchte, das reflektierende Kreuz mittels Spiegel vom Boden aus wegzublenden und sogar den Abriss des Turms diskutierte. Schließlich beendete ein Regierungsmitglied die Diskussion mit dem Ausspruch: "Das ist kein Kreuz, sondern ein Plus für den Sozialismus!"

Mir ist das egal. Ich habe Nackenschmerzen vom krampfhaften In-die-Höhe-Schauen, also starre ich verbissen geradeaus. Meine Sichtweise ist beschränkt: Ich sehe Beton, nichts als Beton. Der über 26.000 Tonnen schwere Turm könnte mich, mager und 366 Meter kleiner, jederzeit niederstampfen - so meine Horrorvorstellung.

Jährlich zählt der Funk- und Fernsehturm 1,2 Millionen Besucher, und gerade heute sind sie alle auf einmal gekommen. Die Schlange anstehender Touris ist gefühlte zwei Stunden lang, und die Hitze auf der "na ja, geht so" Panoramastraße unerträglich. Die Frittenbude sucht eine Kellnerin im Schichtdienst. Ich denke an meine ungewisse Zukunft und kriege Depressionen.

Endlich bin ich an der Reihe. Eingeklemmt zwischen Schwitzenden habe ich im Fahrstuhl Atembeschwerden. "Der Fernsehturm ist der höchste Turm Deutschlands", informiert ungefragt der Liftboy. Später belehrt man mich noch, dass aktuell mehr als 28 digitale Fernsehprogramme über die ehemalige DDR-Sendeanlage laufen, die SED-Parteichef Walter Ulbricht am 3. Oktober 1969 eröffnen ließ.

Egal. In 38 Sekunden werde ich in die Aussichtsetage auf 203,78 Meter Höhe katapultiert, fast geplatztes Trommelfell inklusive. Aber welch Wunder! Meine Laune ist ebenfalls in den Himmel geschossen. Denn die Panoramaaussicht hier oben, die ist ja mal wirklich so was von "schau".

Ich mache in null Komma nichts einen 360-Grad-Stadtrundgang. Endlich kann ich der Volksbühne mal ungeniert aufs moosbewachsene Dach kieken. "Huhu Natty, hier bin ich!", brülle ich begeistert und winke in Richtung des ehemals besetzten Hauses in der Brunnenstraße 7, Keimzelle meines Freundeskreises. Angestrengt suche ich nach dem taz-Gebäude und patsche an die Glasfassade, so als ob ich es dann besser sehen könnte.

Ich renne euphorisch im Kreis und stürme eine Treppe hinauf, mitten hinein ins Telecafé. Wirr im Kopf wird mir heftig flau im Magen. Denn das Café dreht sich um die eigene Achse, zwei Runden in einer Stunde. Benommen lasse ich Tische, Stühle, Kalbsroulade und Alt-Berliner Schinkensülze an mir vorbei rotieren.

Das Telecafé hat den Spitznamen "Bismarck-Café", denn anno dazumal kostete jeder Bissen eine Mark. Tatsächlich ist kein Hauptgericht unter 10 Euro zu bekommen - von einem Platz ganz zu schweigen. Prompt wird mir die Quittung für mein unnützes Herumlungern im Türbereich serviert. "Reserviert hammSe wohl nicht, junge Frau!?", verweist mich eine blond-toupierte Kellnerin des Platzes. "Nee", sage ich bockig und mache mich steif.

Meine Laune ist tief in den Keller gestürzt, plötzlich finde ich auch die Aussichtsetage nicht mehr so toll. Das filzige Ambiente in gelb-braunen Farbtönen wirkt staubig und Berlin piefig. Mitleidig betrachte ich das Sony-Center. Warum so viel Hype um etwas, das nicht größer ist als ein Legostein? Ich fühle mich so überlegen, dass nicht mehr der Turm mich, sondern ich den Turm niederstampfen könnte. Jawoll! Schließlich habe ich noch vor Kurzem auf dem Edifício Italia in São Paulo gestanden und auf geschätzte 20 Millionen Einwohner heruntergespuckt. Und da gab es wenigstens ein paar anständige Skyscraper zu sehen.

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