Debatte Steuerflucht: Gerechtigkeit ist machbar

Misstrauen ist nützlich. Denn es schützt davor, den Kapitalisten eine soziale Neigung zuzutrauen. Nur darf das nicht mit der folgenlosen Klage gegen "die da oben" enden.

Seit die Liechtensteiner Silberscheibe sich im Besitz deutscher Staatsanwälte befindet, greift Unruhe im Milieu der Besserverdienenden um sich. Unternehmer, ihre Verbände sowie die ihnen geneigten Medien und Politiker warnen davor, leichtfertig einen "drohenden Vertrauensverlust in die deutsche Wirtschaftselite" zu beschwören. Vom verloren gehenden Vertrauen zu reden sei nichts als ein populistisches Manöver, habe nichts mit den Fakten zu tun und zeige außerdem ein gerüttelt Maß an Unehrlichkeit.

Denn: Erstens handle es sich bei den Liechtensteiner Delinquenten nur um eine verschwindend kleine Minderheit, die in gar keiner Weise für das Gros der gesetzestreu steuerzahlenden Unternehmer und sonstigen Großverdiener stehe. Zweitens werde in der Publikumsreaktion Steuerflucht und legale Steuervermeidung unzulässig vermengt, nur um die deutsche ökonomische Elite in toto zu verleumden. Und drittens sei es unglaubwürdig, wenn plötzlich in der Öffentlichkeit für Steuerflüchtige ein moralischer Standard aufgerichtet werde, den die große Mehrheit der Deutschen für ihr eigenes Verhalten nicht akzeptiere.

Sind wir nicht allesamt Betrüger, die mit lügenhaften Angaben gegenüber Staatsbehörden Vorteile für uns herausschinden? Und beweist nicht schon die gängige Verwendung des Begriffs "Steuersünder", dass, wo Sünde vorkommt, auch Vergebung nicht weit ist? Wenn überhaupt, so stehe das Vertrauen der Anlieger in eine Regierung infrage, die sich mittels Hehlerei unrechtmäßig in den Besitz persönlicher Daten bringe.

Gut gebrüllt, aber einige Tatsachen werden dafür sorgen, dass die Besserverdienenden diese tief gestaffelte Verteidigungslinie nicht werden halten können. Denn das Argument von generell praktiziertem Steuerbetrug sieht sich der Frage ausgesetzt, welche faktischen Betrugsmöglichkeiten ein durchschnittlicher Lohnabhängiger eigentlich hat. Da der Steuerbetrag von vornherein vom Bruttolohn einbehalten wird, kann der Lohnabhängige Aufwendungen und gegebenenfalls damit verbundene falsche Angaben nur in geringem Umfang tätigen. Sein Steuergebaren liegt offen zutage.

Demgegenüber eröffnet sich bei Einkommensteuererklärungen ein weites Feld von Betrugsmöglichkeiten. Steuerprüfungen und insbesondere Betriebsprüfungen fördern regelmäßig Falschangaben in einem Ausmaß zutage, die eine Vervielfachung des prüfenden Personals wie auch der Zahl der Steuerfahnder als äußerst lukratives Geschäft für den Staat erscheinen lassen. 2004 holten 2.570 Steuerfahnder den stolzen Betrag von 1,6 Milliarden Euro - 630.000 Euro pro eingesetzten Beamten. Der Bundesrechnungshof hat in den vergangenen Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass Steuererklärungen "häufig nur noch im Schnellverfahren bearbeitet werden". Es sei, so der Rechnungshof 2006, "nicht hinnehmbar, dass ein kleiner Personenkreis mit bedeutsamen Einkünften von mehr als 500.000 Euro im Jahr kaum geprüft und in der Regel antragsgemäß veranlagt wird".

Jedem Lohnabhängigen ist klar, dass er sich nur als bergwandernder Urlauber in eins der zwölf Dörfer des Fürstentums Liechtenstein verirren wird. Was jetzt über die Reisenden ganz anderer Art zu lesen ist, erhärtet nur einen fast allgegenwärtigen Verdacht. Denn das Vertrauen in die wirtschaftliche Machtelite bröckelt. Die ökonomische Funktionselite hatte lange Zeit ein Selbstbild kultiviert, das sie als eigentliche Elite auswies. Über 90 Prozent der Manager sehen Umfragen nach die eigene Leistung als ausschlaggebend für ihren Aufstieg an.

Dieses meritokratische Selbstverständnis war lange Zeit auch für die gesellschaftliche Wertschätzung des Managers ausschlaggebend. Es geriet in dem Ausmaß in die Krise, in dem sie trotz wirtschaftlichen Versagens mit hohen Abfindungen und Gehältern belohnt wurden, die in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mit der gebotenen Leistung standen. Die jetzt in der Öffentlichkeit virulenten Enthüllungen über Steuerhinterziehungen fallen auf fruchtbaren Boden. Hinter der Vertrauensfassade kriecht Misstrauen hoch.

Vertrauen ist von der Ratio her gesehen eine sinnvolle Verhaltensweise. Da wir bei Entscheidungen, die in die Zukunft wirken, nie alle relevanten Faktoren überblicken können, kann Vertrauen in eine Person oder Konstellation zu einer wirksamen Entscheidungshilfe werden. Es entlastet, es reduziert Komplexität, wie der Soziologe Niklas Luhmann gezeigt hat. Vertrauen beinhaltet stets einen Vorschuss. Kein alltägliches Handeln ist ohne einen solchen Vorschuss möglich. Ohne Vertrauen würden wir kein Krankenhaus und kein Flugzeug betreten. In jemanden Vertrauen setzen, heißt auch, dessen Aktionsmöglichkeit zu erweitern, da er nicht über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegen muss. Der Kapitalismus als Produktionsweise zehrt vom Vertrauen als einer zwischenmenschlichen Ressource, die ihre Verbindlichkeit und Kraft aus ihrem Ursprung in vorkapitalistischen Verhältnissen bezieht.

Vom Vertrauen in Personen und von vertrauensvoller Kooperation ist ein abstraktes Zutrauen zu unterscheiden, das in modernen Gesellschaften nach Luhmann zum Systemvertrauen wird. Systemvertrauen basiert auf Erwartungen, die ihrerseits realistisch gesehen außerhalb der Kontrollmöglichkeit des Vertrauenden liegen. Etwa als Vertrauen in das Funktionieren sozialer Sicherungssysteme oder in die Geldwertstabilität. Systemvertrauen bezieht sich darauf, dass, notwendige Korrekturen und Anpassungen einbegriffen, "der Laden weiterläuft", dass die "soziale Marktwirtschaft" weiterhin funktioniert. Und dass die gesellschaftlichen Akteure sich entsprechend verhalten.

Es ist gerade das Systemvertrauen, an das die ökonomischen Machteliten in Deutschland die Axt angelegt haben. Sie sind es selbst, die systemisches Misstrauen erzeugen. Wie wirkt Misstrauen? Schon im täglichen Leben bewahrt Misstrauen zwar vor Leichtsinn und Fehlern, schränkt aber auch stark die Handlungsfähigkeit ein, weil überall Fallstricke vermutet werden. In großen gesellschaftlichen Zusammenhängen bewahrt Misstrauen ebenfalls vor Leichtgläubigkeit und insbesondere davor, den Kapitalisten als Klasse irgendeine soziale Neigung zuzutrauen. Andererseits kann generalisiertes Misstrauen leicht zu einer Haltung führen, die an politischen Maßnahmen, also auch an der Forderung nach einem gerechten Steuerrecht und einer effektiven Praxis der Steuereinnahme verzweifelt. Dann wäre dem Populismus mit seiner folgenlosen Klage gegen "die da oben" das Feld bereitet.

Können wir der Funktionsweise des demokratischen Systems vertrauen und gleichzeitig der ökonomischen Machtelite prinzipiell misstrauen? Das funktioniert, wenn Systemvertrauen sich auf das Selbstvertrauen der Bürger stützt. Wenn der in der Gesellschaft virulente Ruf nach Gerechtigkeit auch auf das Terrain gerechter Besteuerung übergreift.

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