„Arbeitslosigkeit ist eine Folge unseres Erfolges“, sagt Sascha Liebermann

Es sollte ein Grundeinkommen geben. Es sicherte allen ein Auskommen und böte die Chance, offensiv zu rationalisieren

taz: Herr Liebermann, die Bundesregierung will die Löhne drücken und die Unterstützung der Arbeitslosen verringern. Dagegen wird demonstriert. Wie sieht Ihre Alternative zu den Hartz-Reformen aus?

Sascha Liebermann: Wir schlagen ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Staatsbürger vor. Es muss so hoch sein, dass jeder am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann – auch wenn er keiner Erwerbsarbeit nachgeht.

Ihre großzügige Grundsicherung steht im Gegensatz zur mageren Sozialhilfe und stellt das gegenwärtige Prinzip „Einkommen durch Arbeit“ in Frage.

Wir haben in Deutschland und anderen Industriestaaten ein Entwicklungsstadium erreicht, in dem einerseits die Wertschöpfung und Produktivität, also der gesellschaftliche Reichtum, ständig zunehmen. Andererseits steigt aber auch die Arbeitslosigkeit. Diese Gleichzeitigkeit sind wir gewohnt als Versagen wahrzunehmen.

Wollen Sie sagen, Arbeitslosigkeit sei Fortschritt?

Erwerbslosigkeit steht bei uns ja nicht für mangelnde Innovation, sondern ist gerade das Ergebnis der Automatisierung und des technischen Fortschritts. Wir haben also einen Mangel an Lohnarbeit, weil unser Land insgesamt wohlhabender wird. Das ist ein Erfolg, zu dem die Automatisierung beigetragen hat.

Deshalb sagen Sie, diesen Reichtum solle man nutzen, um allen ein Grundeinkommen zu gewähren?

Wenn wir über unsere gegenwärtige Lage hinausgelangen wollen, müssen wir Arbeit und Einkommen entkoppeln. Es gilt, die moderne Entwicklung zu akzeptieren. Sie ist nicht umkehrbar, solange man auf Automatisierung nicht verzichtet. Ganz im Gegenteil bietet sie uns die Chance, Freiheit zu gewinnen. Wir sind so reich, dass wir Lebenszeit aus dem Erwerbsleben zurückholen können.

Soll das Grundeinkommen für Leute ohne bezahlte Arbeit existenzsichernd sein, müsste es in der Größenordnung von 1.000 Euro pro Monat liegen.

Ich möchte keine Zahl nennen. Wie hoch es sein wird, ist eine politische Entscheidung. Dass wir reich sind, ist doch unstrittig.

Trotzdem müsste das Grundeinkommen absehbar über dem Lohn liegen, den viele Leute mit Arbeit erwirtschaften. Würde Ihre Idee nicht zum Kollaps der Staatsfinanzen führen, weil Millionen Menschen schlicht aufhörten zu arbeiten?

Es wäre doch wunderbar, wenn sie die Freiheit hätten, grundsätzlich wählen zu können. Die meisten würden weiterarbeiten, denn sie machen ihre Arbeit aus Leidenschaft, aus Neugierde und Wissensdurst, aus Begeisterung für andere Menschen. Sie wollen auf diese Weise ihren Beitrag zum Gemeinwohl leisten.

Man kann davon ausgehen, dass durch die materielle Absicherung auf hohem Niveau die Arbeit in der Wirtschaft unproduktiver wird. Schließlich fällt ein Teil des Drucks weg, der die Menschen im Hamsterrad festhält. Schwindet damit nicht der Reichtum, der zur Finanzierung des Grundeinkommens notwendig ist?

Nein, ganz im Gegenteil. Die teilweise erzwungene Arbeit, die wir heute kennen, ist nicht so produktiv wie freiwillig geleistete Tätigkeit. Denn für wirklich innovative Arbeit bedarf es einer starken Identifikation mit dem Beruf, den man ausübt. Deshalb würde das Grundeinkommen geradezu innovationsfördernd sein. Denn wer arbeitete, täte es aus freien Stücken. Der gesellschaftliche Reichtum würde zu- und nicht abnehmen. Deshalb halte ich es für unwahrscheinlich, dass es zu Finanzierungsproblemen grundsätzlicher Art kommen würde.

Schon heute beschimpfen manche Arbeitsplatzbesitzer die Arbeitslosen als faul. Umgekehrt neiden Arbeitslose den Arbeitenden oft Einkommen und Anerkennung. Wie können in Ihrem Modell zwei gesellschaftliche Sektoren, die nach so grundsätzlich unterschiedlichen Prinzipien funktionieren, friedlich koexistieren?

Da Anerkennung und Wert des Menschen nicht mehr vom Besitz bezahlter Arbeit abhinge. Damit würde die Stigmatisierung der Arbeitslosen aufgehoben, die einen erheblichen Druck erzeugt, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Nach unseren gegenwärtigen Vorstellungen versagen die Leute ja, wenn sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen.

Ein prinzipielles Gegenargument: Es ist doch gar nicht ausgemacht, dass das Wachstum nicht mehr zurückkommt und uns Lohnarbeit in ausreichender Menge für immer ausgegangen ist.

Ihrer Frage liegt die Annahme zugrunde, dass neue Arbeitsplätze entstehen, wenn das Wachstum 3 oder 4 Prozent erreicht. Aber wer sagt, dass nicht auch weiter automatisiert wird? Die Rationalisierungseffekte nehmen doch eher zu und nicht ab. Heute schon werden die eigentlich vorhandenen Möglichkeiten der Innovation gar nicht ausgeschöpft.

Denken Sie da etwa an den öffentlichen Nahverkehr?

Sicher, denn technisch wäre es möglich, ganz ohne U-Bahn-Fahrer auszukommen. Das Grundeinkommen würde hier die Chance eröffnen, das Unternehmen offensiv zu rationalisieren. Man müsste nicht auf Biegen und Brechen Arbeitsstellen erhalten, wie gerade bei VW. Da beugt sich der Vorstand dieser Forderung, weil er nicht radikal gegen den Wertekonsens verstoßen will. Das heißt aber auch: Er opfert Wohlstand.INTERVIEW: HANNES KOCH