Schüssel zur Welt

Internetboom und Satellitenfernsehen bescheren Marokko einen Modernisierungsschub. Eine Hoffnung vor allem für Frauen

von ELISABETH WELLERSHAUS

Ihr Foto ging vor zwei Jahren über sämtliche marokkanischen Ladentische. Kleine Mädchen wollten sich anziehen wie sie, Frauen liefen in Scharen zum Coiffeur, um ihre Frisur zu kopieren. Etwas geradezu Unglaubliches war geschehen: Eine moderne arabische Frau hatte ins marokkanische Königshaus eingeheiratet.

Händeringend hatte man nach einer Frau für Mohammed VI. Ausschau gehalten. Aber hatte es ausgerechnet so eine werden müssen? Denn auch wenn der König mit Salma Bennani nun endlich eine Ehefrau gefunden hatte – sein Land hat mit ihr auch eine ziemlich energische Prinzessin am Hals. Nicht genug, dass sie aus einer Akademikerfamilie stammt oder vor ihrer Hochzeit als Informatikerin gearbeitet hatte. Kraft der Vermählung erhielt sie den Titel Königliche Hoheit, wurde zur Prinzessin und war die erste Königsgemahlin, die öffentlich auftrat.

Seit der Omnipräsenz von Prinzessin Popstar hat sich noch einiges mehr geändert – vor allem für Marokkos Frauen. Denn hatte man bereits jegliche Hoffnung auf die Reformierung des Familienrechts aufgegeben, gibt es nun seit Beginn dieses Jahres endlich doch ein neues „Moudawana“. Was unter anderem bedeutet, dass sich Frauen mittlerweile von sich aus scheiden lassen dürfen. Dass sie das Sorgerecht für ihre Kinder einfordern können. Und dass selbst die Polygamie so gut wie unmöglich geworden ist.

Die größte gesellschaftliche Veränderung scheint sich derzeit allerdings in marokkanischen Wohnzimmern oder in den engen Räumen der staubigen Medinacafés abzuspielen: überall dort, wo es Internetzugänge oder Satellitenprogramme gibt. Neue Kommunikationsmedien in der arabischen Welt sind ein Thema, für das sich auch zwei außergewöhnliche Marokkanerinnen interessieren. Denn Fatima Mernissi und Jamila Hassoune wissen, welch bedeutender Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Medientechnologie besteht.

Mernissi, Grande Dame der marokkanischen Frauenbewegung, war eine der Ersten, die die Auswirkungen des Satellitenfernsehens auf soziologischer Ebene untersuchte. Ihre Kollegin Jamila Hassoune, Buchhändlerin aus Marrakesch, dokumentiert den Internetgebrauch von Jugendlichen und fördert diverse Alphabetisierungs- und Literaturprogramme für Frauen. Leicht ist die Arbeit der beiden nicht immer. Mernissis Studien werden in Hassounes kleiner Librairie teilweise noch unter dem Ladentisch verkauft. Dass die Bücher dennoch weggehen wie warmer Couscous, hat mit dem stetig wachsenden Interesse der Bevölkerung zu tun. Darunter sind immer mehr Frauen, die wissen wollen, was in ihrem Land passiert.

Vor kurzem waren die Soziologin und die Buchhändlerin in Berlin, um über die Auswirkungen der neuen Medien zu diskutieren. Während der Konferenz im Haus der Kulturen der Welt verkündete Mernissi nichts Geringeres als die „digitale Demokratisierung“ Marokkos. Denn sie sieht Satellitenfernsehen und Internetboom als Antipoden zur staatlichen Zensur der alten Medien. Das staatliche Medienmonopol werde durchbrochen, weil der Bürger heute endlich die Chance hat, selbst zu entscheiden, was ihn interessiert. Am Rande der Konferenz sagte sie: „An die 150 Fernsehkanäle stehen dem Zuschauer nun zur Auswahl. Und er kann selber zwischen Unterhaltung und Informationsprogrammen wählen.“ Ähnliches Potenzial traut sie dem Internet zu: „Männer und Frauen können sich in der Anonymität des virtuellen Raums unterhalten und sich damit dem kontrollierten Familienumfeld entziehen. Gerade für Frauen und Jugendliche wird durch die neuen Medien ein öffentlicher Raum geschaffen, den es zuvor nicht gab.“ Mernissi glaubt, dass die Demokratisierung des Wissens und die öffentliche Auseinandersetzung den Weg zu einer mündigen Gesellschaft ebnen können.

Für manch einen kann so viel unbekannte Offenheit allerdings auch zur Verwirrung führen, mitunter gar zu häuslichen Konflikten. Denn es gibt kein geruhsames Familienfernsehen mehr, das durch drei spärliche nationale Sender dominiert wird. Stattdessen stehen Familien auf einmal vor der Qual der Programmwahl. „Familienmütter kaufen sich heute ihre eigenen tragbaren Fernseher“, erzählt Mernissi. „Damit sie sich ihre Lieblingssendungen heimlich in der Küche ansehen können. Aber wehe, der Ehemann schielt im Nebenzimmer den leicht bekleideten Damen aufs Dekolletee.“ Familienfernsehen scheint passé.

Die Frauen leisten einen aktiven Beitrag zur „digitalen Umma“, der Netzgemeinschaft der Gläubigen. Ob als Film- und Fernsehproduzentinnen, als Moderatorinnen oder als Bauchtänzerinnen in den Werbepausen: Frauen haben die Medienlandschaft verändert. So wurde Muntaha al-Rimhy von al-Dschasira mit ihrer Talkshow „For Women only“ zum Sprachrohr der Frauen. Und machte die Männer nervös, da sie Frauen zum Nachdenken über Themen wie Sexualität und Partnerschaft anregte.

Aber findet nun durch den weiblichen Einfluss und die westlichen Unterhaltungsformate gleich eine gesellschaftliche Revolution statt? Schließlich dienen die neuen Medien ganz sicher nicht nur dem qualitativen Informationsaustausch. Doch neben der inhaltlichen Frage ist zunächst eine ganz andere Überlegung relevant: Welchen Stellenwert haben Information, Bildung und Aufklärung überhaupt in der marokkanischen Gesellschaft?

Wenn man das Treiben in den kleinen, verwinkelten Straßen der Medina von Marrakesch betrachtet, scheint sich die Frage fast von selbst zu klären. Dort sitzen Jungen und Mädchen hinter verdunkelten Scheiben und surfen den ganzen Tag selig durchs Netz. Draußen laufen geschäftige Händler auf und ab und beschallen, Mobiltelefon am Ohr, die kleinen Gässchen. Fast jedes Altstadtdach ziert eine nagelneue Satellitenschüssel.

Marokko gilt als eines der fortschrittlichsten muslimischen Länder. König Mohammed VI. bemüht sich, den islamischen Fundamentalismus zurückzudrängen. Doch Mernissi und Hassoune wissen, dass vieles im Argen liegt. Dass die Zivilgesellschaft nicht den Staat ersetzen kann. Und dass es in der arabischen Welt an adäquaten politischen Führern mangelt. Dennoch glauben beide daran, dass die neuen Medientechnologien der Bevölkerung ein neues Selbstbewusstsein verschaffen und den einzelnen Bürger zum politischen Denken und Handeln motivieren.

Jamila Hassoune hat sich schon vor dem Internetboom mit dem Bedürfnis nach Information und Austausch auseinander gesetzt. Vor zehn Jahren übernahm sie den kleinen Buchladen ihres Vaters, der im Universitätsviertel am Rande von Marrakesch liegt. Heute ist sie eine der wenigen weiblichen Buchhändlerinnen Marokkos. Wenn man das Zentrum verlässt, erreicht man nach ein paar Minuten Fahrt über staubige Straßen den Stadtteil Amerchich. Und wenn man Glück hat, findet man Jamila Hassoune dort in ihrem kleinen Laden, wo sie unter Büchern vergraben ihren Literaturclub organisiert.

1995 gründete sie den „Club de la Litérature“ und wurde gleichzeitig zur mobilen Buchhändlerin. Damals machte sie sich zum ersten Mal in die Dörfer des Hohen Atlas auf. Sie hatte sich vorgenommen, die Lesekultur unter Jugendlichen aus den ländlichen Regionen zu fördern. „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss die Buchhändlerin eben in den Atlas.“ Sprach sie und packte ihren kleinen Renault voll bis unters Dach, um die Jugendlichen mit Lesestoff zu versorgen. Die konnten gar nicht schnell genug Nachschub bekommen. Durch den Erfolg angespornt, war Hassoune auch schon das eine oder andere mal mit Mauleseln oder zu Fuß in den Bergen unterwegs. „Ich habe früher alles gelesen, was ich in die Finger bekam. Dieses Geschenk möchte ich weitergeben. Wie ich in die Berge komme, ist mir egal. Hauptsache, ich komme an.“ Im Gegenzug kommen heute viele Jugendliche aus der Umgebung von Marrakesch zu ihr in den Laden. Unter anderem steht dort nämlich auch ein Computer mit Internetanschluss.

Während einer ihrer Exkursionen traf Jamila Hassoune auf Fatima Mernissi, die im Auftrag der Weltbank im Hohen Atlas unterwegs war. Die beiden schmiedeten sofort gemeinsame Pläne. Mernissi schlug vor, verschiedene Bürgerinneninitiativen zu vernetzen und den Austausch zwischen Land- und Stadtbewohnerinnen anzuregen. Konferenzen, Workshops und Exkursionen sollten Frauen unterschiedlichster Hintergründe und Lebensumstände zusammenbringen. Die Bewohnerinnen des Hohen Atlas sollten außerdem die Möglichkeit erhalten, ihre Erfahrungen zu kommunizieren und aufzuschreiben. Alphabetisierungsprogramme und Schreibwerkstätten wurden eingerichtet, die heute von Fatima Mernissi geleitet werden.

Das Kollektivunternehmen heißt „Caravane Civique“ und besteht nun schon seit 1997. Kollektivunternehmen? Schon. Doch wer genauer hinsieht, merkt, dass eine Person die Zügel in der Hand hält. Fatima Mernissi ist und bleibt die intellektuelle Instanz der Gruppe. Immerhin führte ihr akademischer Weg sie von der Sorbonne über die USA zu ihrem derzeitigen Lehrstuhl an der Universität Rabat. Mit „Der politische Harem. Mohammed und die Frauen“ (aus dem Französischen von Veronika Kaibs-Alamba, Herder Verlag, Freiburg 2002, 297 Seiten, 12,90 Euro) ist sie auch in Deutschland bekannt geworden. „Geschlecht, Ideologie, Islam“ (A. Kunstmann Verlag, München 1987; derzeit vergriffen) gilt als Standardwerk über Frauen und Islam. Ihre aktuellen Projekte über das Satellitenfernsehen werden sich vermutlich ebenfalls gut verkaufen. Doch internationaler Erfolg hin oder her: Im eigenen Land wird Fatima Mernissi noch immer mit Skepsis beäugt.

Die Vorzeigeintellektuelle weiß dennoch um ihren Ruf und ihre Wirkung. Widerworte sind bei Madame oft zwecklos. Schnell macht sie in Gesprächen deutlich, auf welche Themen sie hinauswill und welche sie lieber umgeht. Vor gut einem Jahr hagelte es heftige Kritik, als sie sich weigerte, zu den Attentaten von Casablanca Stellung zu beziehen. Als sie es dann endlich doch tat, wurde die Kritik nur noch schärfer. Denn Frau Mernissi vertrat vehement die These, die Attentäter seien kein Produkt der marokkanischen Gesellschaft – es gebe einfach keinen Boden für islamistischen Extremismus in Marokko. Ihre Aussage hat sie später abgemildert, doch die Beharrlichkeit, mit der sie ganz eigenen politischen Ansichten vertritt, ist geblieben.

Bei all dem Aufruhr um Mernissis Person wird gerne etwas Entscheidendes übersehen: Ihre Stimme ist nach wie vor von großer Bedeutung für die arabische Welt. Denn sie verbreitet einen einmaligen Optimismus. Ob es nun um die „digitale Demokratisierung“ oder um ihre Ansichten zur Gleichberechtigung der Frau geht.

Ihre Kritiker werfen ihr vor, dass ihr Bild der marokkanischen Gesellschaft arg geschönt sei. Dass ihr Blickwinkel einseitig sei. Dass ihre Vorstellung von der zivilgesellschaftlichen Entwicklung die akuten Gefahren in Marokko übersähe. Nämlich den wachsenden Islamismus und das Gewaltpotenzial unter Jugendlichen. Mernissi hingegen betrachtet ihre Ansichten als notwendiges Gegengewicht zu den „aktuellen Negativbildern“ der marokkanischen Gesellschaft.

Dass der Weg zu einer marokkanischen Gesellschaft mit mündigen Frauen und Männern noch steinig sein wird, ist offensichtlich. Ob Internet und Satellitenfernsehen wirklich ihren Teil dazu beitragen, ist auch noch nicht abzusehen. Auch wer letztlich überhaupt Zugang zu diesen Medien hat. Ob denn wirklich alle Marokkaner einen Satellitenanschluss und die finanziellen Mittel hätten, um das Internet zu benutzen, fragen Mernissis Kritiker. Sie kontert, man könne den „negativen“ Statistiken nicht trauen: „In der arabischen Welt teilt man. Selbst das gedruckte Wort. Die gleiche Tageszeitung wird von zehn verschiedenen Menschen gelesen. Und wenn jemand einen Internetanschluss hat, kann man sicher sein, dass er noch von zwanzig weiteren Menschen genutzt wird. Das Solidaritätsnetzwerk der Armen steht in vollster Blüte.“

Hassoune zumindest nutzt den Internetanschluss in ihrem Laden schon lange nicht mehr. Sie geht ins Internetcafé, um an neuen Statistiken zu arbeiten – und überlässt den eigenen Computer der Dorfjugend.

ELISABETH WELLERSHAUS, 30, lebt als freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin