Die Geflohene

Nelly Mouchi ist eine jüdische „pied noir“. Bis kurz vor ihrer Flucht nach Frankreich 1962 glaubte sie an eine gemeinsame Zukunft mit Arabern und Christen in ihrer algerischen Heimat

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Ein Weizenfeld reicht bis an das Haus, in dem Nelly aufwächst. Es ist eines von fünf Häusern, die einen geschlossenen Innenhof umgeben. Neben Nellys Familie wohnt die ihres Onkel. Nellys Vater und ihr Onkel stellen Schuhe her. Die Brüder sind auf die bunten Lederschläppchen spezialisiert, die arabische Frauen zu hohen Festen tragen. Zwei Paar verkaufte Schuhe pro Tag reichen aus, um die vierzehn Personen ihrer beiden Familien zu ernähren.

In den drei anderen Häusern leben arabische Familien. Wenn ein arabischer Nachbar Getreide zur Mühle fährt, sitzen alle Kinder aus dem Hof oben auf seinem Karren. Am Sabbat, wenn die jüdischen Frauen nicht feuern dürfen, zünden arabische Nachbarinnen ihre Öfen an. „Damit die Sünde nicht auf uns lastet“, sagen sie.

„Es waren die schönsten Jahre“, schwärmt Nelly Mouchi noch ein halbes Jahrhundert später. „Zu unseren Nachbarn hatten wir grenzenloses Vertrauen.“ Die 66-Jährige sitzt in der großen Küche ihrer Betonresidenz in einer Pariser Vorstadt. Wenn sie von Saint-Arnaud spricht, dem Dorf ihrer Kindheit und Jugend in der Hochebene im Osten Algeriens, glänzen ihre Augen. Heute trägt Saint-Arnaud den arabischen Namen El Eulma. Für Nelly Mouchi ist es unerreichbar. Ihre Familie hat das Dorf Hals über Kopf verlassen: Im Juli 1962 wurde Algerien unabhängig, eine Million französischer Staatsangehöriger floh. Madame Mouchi ist nie zurückgekehrt.

Saint-Arnaud hat eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche. „Alle kannten sich“, erinnert sich Madame Mouchi, „die Araber, die Juden und die Christen.“ Die beiden ersten Gruppen waren lange vor den Franzosen in Algerien. Die Vorfahren der Araber sind von Osten her eingewandert. Die der Juden aus Spanien, auf der Flucht vor der Inquisition. Ab 1830 kamen die Christen. In Nellys Dorf weiß niemand, woher seine Ahnen stammen. Ihr Zuhause ist Saint-Arnaud.

Unter der französischen Kolonialverwaltung waren Araber und Juden bis 1870 gleichgestellt. Dann erließ Justizminister Crémieux in Paris ein Dekret. Es macht die algerischen Juden zu gleichberechtigten französischen Staatsangehörigen. Von den Arabern und Berbern erhalten nur wenige dieses Privileg. Die arabische Bevölkerungsmehrheit bleibt rechtlos.

Nelly, die 1938 zur Welt kommt, nimmt diese Unterschiede nicht wahr. Sie spricht Arabisch und Französisch. Isst dasselbe wie die arabischen Nachbarn. Nennt sie „bessere Freunde als die Christen“. Paris liegt für sie auf einem anderen Planeten. Dennoch würde sie sich niemals als Algerierin bezeichnen. Nelly nennt sich: „eine Französin, die aus Algerien stammt. Eine pied noir – eine Schwarzfüßlerin.“ Woher der Begriff stammt, ist unklar. Manche erklären ihn mit den schwarzen Stiefeln der ersten französischen Kolonialsoldaten in Algerien. Andere mit den schwarzen Füßen der französischen Winzer, die Weintrauben zertreten. Fest steht: Ein pied noir hat in der kolonialen Hierarchie einen Platz in der oberen Hälfte.

In Saint-Arnaud arbeiten die Juden als Schuhmacher, Schmiede und Kesselhersteller. Die Christen als Beamte. Die Araber in der Landwirtschaft. Die ärmsten arabischen Familien wohnen nicht im Dorf, sondern in Hütten in der Vorstadt, im „Douhar“, wo auch der Viehmarkt stattfindet. Die großen Weizenfelder rundum gehören reichen Franzosen. Diese „Siedler“ zahlen ihren Arbeitern einen Hungerlohn: einen Liter Milch und einen Sack Grieß pro Tag. „Die Siedler haben die Araber und die anderen armen Leute damals ausgebeutet“, sagt Madame Mouchi. „Das hat zu den Problemen geführt.“

Nellys Familie gehört zur dörflichen Mittelschicht. Bis der Boykott beginnt. Der Aufstand vom Mai 1945 und seine blutige Niederschlagung geht an Saint-Arnaud vorbei. Aber als anschließend Nationalisten zum Boykott aufrufen, ist der schon bald spürbar. „Die Araber kauften nicht mehr bei uns“, erinnert sich Madame Mouchi. Ihre Familie lernt den Hunger kennen. Manchmal hilft eine arabische Nachbarin mit Teigfladen aus: Goga, die Nelly so lieb hat, als wäre sie die eigene Oma. An anderen Tagen stellt Nellys Mutter einen Kessel mit Wasser auf die Kochstelle, damit die Nachbarn nicht merken, dass sie wieder nichts zu kochen hat.

„Das Zusammenleben der drei Gemeinschaften in Algerien war schön“, daran hält Madame Mouchi bis heute fest. Dass „die Araber einen Aufstand machen würden“, hätte sie nie gedacht. Schon gar nicht, dass sie unabhängig von Frankreich werden wollten.

Als in der Nacht zum 1. November 1954 an dreißig Orten in Algerien Attentate stattfinden, ist Nelly sechzehn. Wenn die Sirenen im Dorf aufheulen, weil es wieder ein Attentat gegeben hat, hofft sie, „dass es niemanden aus meiner Familie getroffen hat“. Jedes Attentat erstaunt sie. Im ersten Moment empfindet sie Hass. Aber das verliert sich schnell: „Man weiß ja nie, wer geschossen hat.“

Die Attentäter haben kein Gesicht. Aber ihre Taten rücken immer näher. Einmal gibt es Alarm, weil die Brüder Zaoui am Eingang zum Markt erschossen worden sind. Nelly kannte sie gut: „Keine reichen Leute, einfach zwei Kesselhersteller, die korrekt gearbeitet haben.“ Dann wird im nahen Sétif die Familie Barral hingemetzelt: „Den Frauen haben sie die Brüste abgeschnitten. Den Männern die Arme.“ Dann trifft es Marie-Thérèse Vial. Die 14-Jährige wird am Kinoeingang in Saint-Arnaud von einer Granate zerfetzt. Im letzten Moment hatte Nellys Vater verboten, dass die eigene Tochter mit ins Kino geht. Madame Mouchi erinnert sich noch an den Film, der an jenem Tag lief: „Obsession“ mit Michèle Morgan.

In Nellys Familie zitieren sie General de Gaulle, um die Lage zu beschreiben. Sie sagen: „die Ereignisse“. Von einem Krieg in Algerien spricht Madame Mouchi bis heute nicht. Zu de Gaulle hat ihre Familie volles Vertrauen. „Er hat Frankreich gerettet. Er wird auch Algerien retten“, denken sie. Schließlich hat de Gaulle bei seinem Besuch in Algier ausgerufen: „Vive l’Algérie française – Es lebe das französische Algerien.“

Nach jedem Attentat macht die Polizei in Saint-Arnaud Razzien. Vor allem bei den Bewohnern des Douhar. Manchmal hocken sie den ganzen Tag lang im Dorfzentrum am Boden, während ihre Hütten durchsucht werden. Wo eine Waffe auftaucht, werden die Bewohner verhaftet. Nelly findet das normal. Sie hat auch Verständnis dafür, dass bei Verhören gefoltert wird. „Die Terroristen haben mit der Folter angefangen“, sagt Madame Mouchi. „Sie haben Unschuldige misshandelt und getötet.“

Die Idee, dass die eigenen Nachbarn etwas über die Attentäter gewusst haben könnten, kommt Madame Mouchi erst Jahre später. Da erinnert sie sich an den Tag, als auf ihren Vater geschossen wurde und die Kugeln ihr Ziel verfehlten. „Das war ein Irrtum“, sagte hinterher die geliebte Nachbarin Goga. Auf Arabisch. „Möglicherweise waren manche Nachbarn Geiseln der Terroristen“, mutmaßt Madame Mouchi. „Sie wussten viel, durften uns aber nichts sagen.“

Der Alltag in Nellys Familie ändert sich, als die Polizei Verstärkung braucht. Die Kinder ermuntern ihren Vater, der schon lange keine Schuhe mehr verkauft, sich zu melden. An die Risiken denken sie nicht: „Wir brauchten etwas zum Essen.“ Zur selben Zeit gibt Paris die Parole aus, dass alle kleinen Araber Französisch lernen sollen. Für Nelly, die gerade die Schule beendet, eröffnet sich eine berufliche Perspektive. Ab November 1957 unterrichtet sie Sechsjährige in der arabischen Vorstadt. Nellys Arbeit in der Schule und die des Vaters bei der Polizei bringen wieder Geld in die Familienkasse.

Ende 1961 heiratet Nelly. Sie folgt ihrem Mann ins 150 Kilometer weiter östlich gelegene Khenchela, wo sie sofort eine neue Stelle an der Schule findet. Ihr Mann arbeitet in der Telegrammabteilung der Post. Dort hört er seit Anfang 1962 häufig Drohungen. Sie gipfeln in dem Satz: „Wir werden eure Töchter entführen und vergewaltigen.“ Dass alles vorbei ist, weiß das junge Ehepaar erst zwei Wochen vor dem Ende. „Exodus“ nennt es Madame Mouchi. Anfang Juni verkaufen die Mouchis ihr Schlafzimmer, zu einem Spottpreis. Nelly Mouchi packt Papiere, Fotos und ihre Aussteuer in zwei Koffer. Ihre letzten algerischen Tage verbringt die hochschwangere junge Frau in Bône, das heute Annaba heißt.

Die drei Tage in Bône sind die schlimmste Zeit für Nelly Mouchi. Sie sieht, wie das Rathaus ausbrennt. Sie ist nicht sicher, ob sie noch einen Platz im Flugzeug bekommt. Und sie weiß nicht, was sie am Ende der Reise erwartet. Als ihr Flugzeug schließlich am 26. Juni 1962 abhebt, ahnt Nelly Mouchi nur, dass sie Algerien für immer verlässt.

Seither ist sie eine pied noir in Frankreich. Das Land, mit dessen Staatsangehörigkeit sie geboren wurde, empfängt sie schlecht. Es gibt keine Notbetreuung am Flughafen. Der Busfahrer nimmt ihr koloniales Geld nicht an: „Diese Francs gelten nicht in Frankreich.“ Wohnungen für die hunderttausende von Neuankömmlingen gibt es nicht.

„Wir waren zu viele“, sagt Madame Mouchi. „Die Franzosen hatten Angst, dass wir ihnen den Platz wegnehmen.“ Auch die Mitglieder der alteingesessenen jüdischen Gemeinde sind zurückhaltend. „Wir waren uns fremd, wir hatten anderes erlebt als sie. Von der Shoa habe ich erst erfahren, als ich in Paris ankam.“ Von General de Gaulle sind die Flüchtlinge bitter enttäuscht. „Er hat Algerien weggegeben“, sagt Madame Mouchi. „Er hätte vorher sagen sollen, dass er uns aufgibt. Das hätte viel Blutvergießen verhindert.“

Bei Zusammenkünften mit anderen pieds noirs redet Madame Mouchi oft über das Leben auf der anderen Seite des Mittelmeers. Über den Alltag, nicht über „die Ereignisse“. Bei Bar-Mizwas, Hochzeiten und anderen Familienfeiern legt sie orientalische Musik auf, tanzt orientalisch und kocht, was seit ihrer Kindheit in Saint-Arnaud ihr Lieblingsessen ist: Couscous.

„Algerien war ein schönes Land“, sagt Nelly Mouchi. Für sie ist es ein untergegangenes Land. Das neue Algerien interessiert sie nicht. „Wir waren auch arm“, sagt sie. „Aber unser Land war nicht so heruntergekommen.“

DOROTHEA HAHN lebt als taz-Korrespondentin in Paris