Neonazis: jetzt 30 Prozent mehr

Laut aktuellem Verfassungsschutzbericht gibt es in Berlin deutlich mehr Neonazis als im Vorjahr. Zwar verlieren die rechtsextremen Parteien Mitglieder, dafür boomt es in der Kameradschaftsszene

VON FELIX LEE

In Berlin gibt es immer mehr Neonazis. Das bestätigte gestern der Landesverfassungsschutz bei seiner Vorstellung des Jahresberichts 2004. Demnach ist die Zahl der Neonazis im vergangenen Jahr um 200 auf insgesamt 900 gestiegen – ein Zuwachs von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Seit dem Wahlsieg von NPD und DVU in Sachsen und Brandenburg befinde sich die rechtsextremistische Szene offenbar „im Überschwang“, kommentierte Innensenator Ehrhart Körting (SPD) die Ergebnisse der ihm unterstellten Behörde.

Der Berliner Kameradschaftsszene werden nach dem Bericht mittlerweile 150 Personen zugeordnet, im Jahr zuvor waren es 60. Doch trotz des gewaltigen Zulaufs bei den Neonazis ist die Zahl der Rechtsextremisten insgesamt nur geringfügig angestiegen, und zwar von 2.395 auf 2.435. Der Grund: Die NPD und die „Republikaner“ in Berlin bleiben selbst innerhalb der rechten Szene unbeliebt und leiden weiter an einem deutlichen Mitgliederschwund – ein Trend, der seit Jahren anhält.

Das aber ist nur ein kleiner Trost. Denn auch die Straftaten haben laut dem Bericht zugenommen. 154 Volksverhetzungsdelikte gab es vergangenes Jahr, 2003 waren es noch 123. Und die Zahl antisemitischer Vorfälle stieg von 123 auf 146. Konsequenzen hat Körting bereits im März gezogen: Er ließ die beiden auffälligsten Kameradschaften, „Baso“ und „Tor“, verbieten.

Aktuelle Zahlen für 2005 kann der Verfassungsschutz zwar noch nicht zur Verfügung stellen. Aber die jüngsten rechtsextremen Übergriffe geben Anlass zur Sorge, dass sie auch 2005 auf hohem Niveau bleiben. Erst am Dienstagabend haben vier Neonazis aus Pankow drei Mitglieder einer Musikband in deren Probenraum überfallen. Die 19-Jährigen schlugen mit Schlagstöcken auf die Musiker ein und besprühten sie mit Reizgas. Polizisten konnten die Neonazis erst auf deren Flucht mit einem Pkw fassen. Die Bandmitglieder kamen verletzt ins Krankenhaus.

Eine besondere Bedrohung sieht der Verfassungsschutz vor allem im Islamismus – auch wenn konkrete Zahlen bisher auf kein erhöhtes Gefahrenpotenzial hinweisen. Registrierte Fälle politisch motivierter Ausländerkriminalität ließen sich zwar zu zwei Dritteln auf Täter aus islamistischen Gruppen zurückführen. Insgesamt gab es 2004 in diesem Bereich aber deutlich weniger Fälle. Dennoch mag Körting keine Entwarnung geben: Es gebe eine hohe Dunkelziffer und der Anschlag in Madrid am 11. März 2004 habe gezeigt, dass Terror auch vor der eigenen Haustür möglich ist.

Unter der Rubrik „Linksextremismus“ findet das linksradikale Bündnis „ACT!“ besondere Erwähnung im Bericht. Dieses seit einem Jahr existierende Bündnis aus den vier Gruppen „Autopool“, „Antifaschistische Linke Berlin“ (ALB), „Fels“ (Für eine linke Strömung) und „Si“ habe im vergangenen Jahr zahlreiche Aktionen vor allem gegen Sozialabbau federführend organisiert und sei der erste Versuch seit langem, die aktionsorientierte linke Szene in Berlin zu stärken. Insgesamt habe sich „das linksextremistische Personenpotenzial“ mit rund 2.375 Personen im Vergleich zum Vorjahr aber nur „unwesentlich“ verringert, heißt es wörtlich in dem Bericht.

Auffällig ist, dass der Verfassungsschutz seinen Jahresbericht wenige Tage vor dem 1. und 8. Mai herausgibt. Behördensprecher Claus Guggenberger bestreitet jedoch einen Zusammenhang: „Wir bemühen uns jedes Jahr, den Bericht so zügig wie möglich vorzulegen. Dieses Mal waren wir eben gut.“