„Ein selektiver Prozess“

Peter Franck von amnesty international kritisiert, dass Michail Chodorkowski aus politischen Gründen der Prozess gemacht wird

taz: Herr Franck, ist das Urteil über Michail Chodorkowski ein Fall für amnesty international?

Peter Franck: Ja. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass dieser Prozess nicht fair geführt wurde und politisch motiviert ist.

Chodorkowski wird Steuerhinterziehung vorgeworfen. Ein politisches Delikt ist das ja nicht …

Stimmt. Aber darauf kommt es nicht an. Nach der Einschätzung russischer Bürgerrechtler ist Chodorkowski jedenfalls auch wegen seiner politischen Aktivitäten verhaftet worden, unter anderem weil er im letzten Wahlkampf zur Duma die Opposition unterstützt hat. Wenn aus politischen Gründen eine selektive Strafverfolgung stattfindet, dann ist das ein Problem, um das sich amnesty international kümmert.

Sie haben aber nicht die bedingungslose Freilassung von Chodorkowski gefordert?

Nein. Amnesty kann ja auch gar nicht beurteilen, ob an den Vorwürfen der Steuerhinterziehung etwas dran ist oder nicht. Wir fordern die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und gehen davon aus, dass es in einem fairen Strafprozess nicht zur Verurteilung Unschuldiger kommt.

Selektive Strafverfolgung kann auch heißen: Ein Schuldiger wird zu Recht verurteilt, aber ein anderer Schuldiger, der der Regierung nahe steht, bleibt frei …

Ja. Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Andere Oligarchen dürften sich im Zuge der Privatisierung und bei der Bezahlung von Steuern kaum anders verhalten haben als Chodorkowski. In dieser Konstellation kann amnesty international aber weder die Verurteilung anderer Oligarchen fordern noch die Freilassung von Chodorkowski. Wir setzen uns dafür ein, dass die Rechte der Angeklagten gewahrt werden. Solche Rechte werden leider dann besonders oft verletzt, wenn eine starke politische Motivation hinter der Strafverfolgung steht.

Der italienische Regierungschef Silvio Berlusconi wirft den Staatsanwälten in Mailand auch vor, sie würden aus politischen Gründen gegen ihn ermitteln. Ist Berlusconi ebenso ein Fall für amnesty?

Selbstverständlich hat auch er das Recht auf ein faires Verfahren. Die Konstellation ist aber etwas anders. Berlusconi ist Regierungschef und hat ganz andere Machtmittel zur Verfügung.

Chodorkowski war der reichste Mann Russlands, hatte also auch gewisse Machtmittel …

Natürlich, möglicherweise diente ja der Prozess dazu, ihm diese Mittel zu entziehen, damit er nicht mehr die Opposition unterstützen kann. Auch reiche Menschen können Opfer eines politischen Prozesses werden. Wir wünschen uns allerdings, dass diejenigen ebenfalls ins Licht der Öffentlichkeit kommen, die nicht so prominent sind wie Chodorkoswki. INTERVIEW: CHRISTIAN RATH