„Schämst du dich nicht?“

„Hartz IV – wie soll ich davon leben?“ Gut. Sehr, sehr gut. Zu gut. Schämen sollten sich alle, die auf Staatskosten ein solches Luxusleben führen – wenn’s nach dem RTL-Moderator Oliver Geissen ginge

von BETTINA GAUS

Ralf ist 35 Jahre alt. Das Insert am unteren Bildschirmrand verrät den Zuschauern: Er „lebt gerne von Hartz IV“. Insgesamt hat er 700 Euro monatlich zur Verfügung, einschließlich Mietzuschuss. Das seien 100 Euro mehr, als er früher bekommen habe, erklärt Ralf. „Was sagt das Gewissen?“, fragt Moderator Oliver Geissen. Eine Zuschauerin, der das Mikrofon hingehalten wird, ist empört: „Schämst du dich nicht?“

Nein, Ralf schämt sich nicht. Er findet, dass seine Situation weniger mit seinem Gewissen zu tun hat als mit der Lage auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem zahle er schließlich auch Steuern, beispielsweise die Mehrwertsteuer beim Einkaufen. Oliver Geissen kann es kaum fassen: „Glaubst du den Scheiß, den du gerade erzählst?“

„Auf unsere Kosten“

Normalerweise erträgt der RTL-Moderator noch viel unsinnigere Behauptungen gelassen und kühl. Wenn es um das geht, womit er sich um die Mittagszeit sonst meist befasst: um Beziehungskisten, ungeklärte Vaterschaften oder Generationenkonflikte. Aber beim Geld hört der Spaß auf. Zumal alle, die staatliche Sozialleistungen in Anspruch nehmen, „auf unsere Kosten“ leben. Wie das Studiopublikum immer wieder betont, sobald man es lässt.

Ist doch egal? Wen interessiert dieser Trashtalk? Eine ganze Menge Leute. Oliver Geissen hat häufig kaum weniger Zuschauer als die „Tagesthemen“. Nur dass die Zuschauer der einen Sendung wachsam und misstrauisch auf jeden Versuch der Manipulation achten, während die andere Sendung als reine Unterhaltung gilt – oder, zynisch genug, als Lebenshilfe.

Professor Dr. Petra Berens ist Expertin für Wirtschaftsrecht. Sie ist von der Redaktion eingeladen worden, offenbar um der Talkshow einen Anstrich von Seriosität zu verleihen. Und für diese Rolle scheint sie sich auch nicht zu schade zu sein. Um sie auszufüllen, möchte sie die „Spitze“ aus der Diskussion rausnehmen und räumt ein, dass die Lage am Arbeitsmarkt tatsächlich nicht so rosig ist. Das kann der 27-jährige Taxifahrer Hamid gar nicht glauben. Er denkt nicht, dass es in Deutschland „irgendwo“ ein Arbeitsmarktproblem gibt. Wer will, der kann.

Markus, 35, will nicht. Er hat 368 Euro im Monat zur Verfügung und findet das toll. Schließlich kann er ausschlafen, sich um seinen Sohn kümmern und gelegentlich seine Kasse durch Schwarzarbeit aufbessern.

Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass der Sohn behindert ist und die Mutter die Familie verlassen hat. Derlei Details würden aber das scharf konturierte Bild nur stören, deshalb geht Geissen schnell darüber hinweg. Und lässt Hamid reden. Der noch einmal sagt, dass es gar nicht so viele Arbeitslose gibt. Nur einige, „die älter als 40 sind und auf ihre Rente warten“.

Professor Dr. Petra Berens kann zum Thema manches beitragen. Zum Beispiel, dass der Regelsatz „natürlich“ gekürzt werden kann, wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Oliver Geissen erklärt, was das bedeutet: „Ein Umzug – definitiv im Bereich der Zumutbarkeit.“ Er wendet sich an ein junges, arbeitsloses Mädchen oben auf dem Podium: „Wäre das denkbar, Jennifer?“ Jennifer nickt verschüchtert. 18 Jahre ist sie alt.

Die Botschaft der Sendung ist plump, unmissverständlich und realitätsfern: Nach wie vor sind die Sozialleistungen viel zu hoch. Zugute kommen sie nur verantwortungslosen Abzockern, die sich einen Lenz machen auf dem Rücken aller braven Leute, die redlich schuften. Keinen einzigen Gast hatte die Redaktion eingeladen, der Mitgefühl mit einer sozialen Notlage hätte erwecken können oder der Schwarz-Weiß-Zeichnung wenigstens einige Grautöne hinzufügte.

Der Wahlkampf findet im Fernsehen statt. Nur dass es gar kein Wahlkampf ist. Die Sendung war eine Wiederholung, zum ersten Mal wurde sie Anfang Mai ausgestrahlt.

Jetzt, am vergangenen Mittwoch, haben 1,52 Millionen zugeschaut. Man braucht sich über die Stimmung im Land nicht zu wundern. Sie wird geschürt.