Politik nach Müntes Gesetz

Der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Franz Müntefering denkt bei seiner Personalpolitik nicht nur an die große Koalition, sondern auch an die Zukunft seiner verunsicherten Partei. Mit Blick auf die Wahl 2009 dürfen jetzt fünf bis sechs Genossen um die Führung in der SPD kämpfen

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Die Politik funktioniert in diesen aufgeregten Zeiten nicht einmal mehr nach ihren eigenen Gesetzen. Noch am Montag hatte Franz Müntefering sich hartnäckig geweigert, auch nur ein einziges Wort über die künftigen SPD-Minister in der großen Koalition zu verlieren. Das hatte sowohl im Präsidium als auch im Vorstand für einige Aufregung gesorgt. Manche Spitzengenossen fürchteten, das Vakuum, das dadurch entsteht, werde mit nicht gerade freundlichen Kommentaren über die unfähigen Sozis gefüllt. Doch der mächtige Partei- und Fraktionschef verteidigte sein Vorgehen. „Das ist nicht die Stunde für Personalentscheidungen“, sagte Müntefering. „Jetzt reden wir mit der Union erst einmal über politische Inhalte.“

In den folgenden drei Tagen passierte das, was passieren musste: Die Medien und die Partei selbst füllten das Vakuum mit Freude. Sie spekulierten wild drauflos, welcher Genosse was werde in der Regierung, so dass man sich schon besorgt fragte, wann der erste Egon Bahr als Außenminister ins Spiel bringen würde. Plötzlich schien allen klar, dass die SPD nicht nur keinen geeigneten Vizekanzler aufzubieten hat, sondern so gut wie keinen geeigneten Minister, der gesund ist oder jünger als 70. Der einzige, der schwieg, war Müntefering.

Er hatte die Aufregung ganz offenbar einkalkuliert. Müntefering denkt in solchen Fragen anders als andere Politiker. Müntes Lehrsatz Nummer eins lautet: Wenn Politik schon nicht mehr nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert, so soll sie wenigstens seinen – Münteferings – Gesetzen folgen. Und wenn etwas in der Politik Zeit braucht, so lautet Müntes zweiter Lehrsatz, dann soll es diese Zeit bekommen, auch wenn die Medien überkochen. Solche Überzeugungen kann man natürlich nur pflegen, wenn man das Sagen hat. Und Müntefering hat in seiner Partei im Moment das uneingeschränkte Sagen. Das Personalpaket, das er gestern präsentierte, entstand nicht unter dem Druck der letzten 72 Stunden. Er hatte es offenbar seit Tagen fest im Kopf, wollte aber noch viele Gespräche führen und auf diesem Wege sowohl der Partei als auch der Fraktion das Gefühl geben, sie könne den Gang der Dinge mitbestimmen.

Am Sonntag saß Müntefering bei Gerhard Schröder zu Hause in Hannover. Die beiden redeten unter vier Augen, wie die Tage davor und danach auch, ausführlich über die sich anbahnende große Koalition und die Zukunft der SPD. Spätestens nach diesem Gespräch wusste der Parteichef definitiv, dass in den Lebensplänen des scheidenden Kanzlers kein Platz war für ein neuerliches Regierungsamt, sei es nun das des Außenministers, des Vizekanzlers oder welches sonst auch immer. Alle personellen Überlegungen, die sich daraus ableiteten, stimmte Müntefering eng mit Schröder ab, aber das endgültige Paket schnürte er offenbar selbst – so jedenfalls wird der Ablauf im engsten Umfeld der beiden geschildert. Schröder, so heißt es, habe sich über einige Entscheidungen sehr gefreut, insbesondere über die Benennung seines wichtigsten Vertrauten, des bisherigen Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier, zum Außenminister. Möglicherweise war der Einfluss des Nochkanzlers viel größer als nachgesagt – unübersehbar ist auf jeden Fall, dass die SPD-Minister im zukünftigen Kabinett sehr schröderisch daherkommen. Das Erbe des „Reformkanzlers“ scheint gesichert.

Das sozialdemokratische Machtzentrum für die nächsten vier Jahre trägt jetzt nur noch einen Namen: Müntefering. Dem Parteichef war nach Schröders Verzicht auf ein Comeback wohl schnell klar, dass er als Vizekanzler und Arbeitsminister in die große Koalition wechseln muss. Nur so ist die von Müntefering selbst propagierte gleiche Augenhöhe zur Union herzustellen – schließlich sitzen Angela Merkel und Edmund Stoiber, die beiden Schwergewichte von CDU und CSU, ebenfalls am Kabinettstisch. Münteferings Job als Chef der SPD-Bundestagsfraktion wird in Zukunft Noch-Verteidigungsminister Peter Struck übernehmen.

Bei Münteferings Personalüberlegungen spielt nicht nur das Gewicht der SPD in der Regierung eine Rolle, sondern vor allem auch die Zukunft seiner verunsicherten und überalterten Partei. Den legitimen Nachfolger von Schröder als kanzlerfähige Führungsfigur gibt es nicht. Um diese Position müssen sich jetzt – unter der Moderation von Müntefering – fünf bis sechs Genossen streiten: Zu ihnen gehören die Ostler Matthias Platzeck und Wolfgang Tiefensee, der Volkstribun Sigmar Gabriel, die technokratischen Reformer Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier sowie die Linke Andrea Nahles. Der jungen Nahles werden, nachdem die SPD-Linke bei der Regierungsbildung quasi gar nicht berücksichtigt wurde, gute Chancen als neue Generalsekretärin eingeräumt.

„Kanzler kann ich nicht“, sagt Müntefering über sich selbst. Wenn das stimmt, trifft es auf die neuen SPD-Hoffnungsträger gegenwärtig allemal zu. Bis 2009 jedoch muss einer von ihnen gut genug sein, eine Kanzlerin Angela Merkel aus ihrem Amt jagen zu können.