„Die Patienten werden immer jünger“

Jessika Kuehn-Velten, Vize-Leiterin einer ärztlichen Kinderschutzambulanz in Düsseldorf: Vernachlässigung nimmt zu

taz: Frau Kuehn-Velten, hat die Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahren zugenommen?

Jessika Kuehn-Velten: Heute reagieren viele Menschen aufmerksamer auf Anzeichen, ob ein Kind misshandelt oder vernachlässigt wird. Dies gilt besonders für Gewalt gegenüber Kleinkindern und Säuglingen. Daher werden mehr Fälle bekannt.

Wie hat sich die Gewalt gegen Kinder in den letzten Jahren verändert?

Wir können keine Zunahme von Misshandlungen beobachten, bemerken allerdings immer mehr Vernachlässigungen. Die Bereitschaft, sich mit Kindern zu beschäftigen, ihnen Zeit und Ressourcen entgegenzubringen, nimmt ab. Kinder, die vernachlässigt werden, haben ein besonders hohes Risiko, auch andere Gewaltformen zu erfahren. Deshalb ist diese Entwicklung nicht zu unterschätzen.

Die Familienministerin Ursula von der Leyen plant ein Frühwarnsystem gegen Kindermisshandlung und Verwahrlosung. Denken Sie, dass ein solches Projekt zum Abbau der Gewalt gegen Kinder beitragen kann?

Das Modell finde ich grundsätzlich gut. Wichtig ist allerdings, dass nicht die Familie als das Risiko betrachtet wird. Stattdessen sollte berücksichtigt werden, dass sie unter gewissen Belastungen leidet, etwa Familienzerrüttungen oder dass Eltern selbst noch Kinder sind oder Drogen konsumieren. Man muss Wege finden, die Eltern für solche Präventionen zu gewinnen, und nicht die Projekte als eine Strafe anordnen. Familien vorbeugend zu helfen ist sehr sinnvoll. Darin liegt auch eine Hoffnung, die Gewalt in Zukunft zu reduzieren. Als wir hier anfingen, lag der Altersdurchschnitt der Kinder, die bei uns Hilfe suchten, zwischen 10 und 12 Jahren. Heute sind die Hälfte der Kinder 7 oder jünger. Wichtig ist auch, dass auf die Familien zugegangen wird und sie sich nicht an eine Einrichtung wenden müssen. Zwei Drittel der Kinder, die zu uns kommen, werden von Einrichtungen, Ärzten oder Nachbarn gebracht und nicht von den Familien selbst.

Wo sehen Sie die größten Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder in Deutschland?

Politik, Gesellschaft und Medien müssen darauf achten, Kindern einen größeren Wert beizumessen. Die andere große Schwierigkeit ist, dass diese Handlungen mit Scham und Schuld verbunden sind. Viele Eltern, die Gewalt ausüben, halten das geheim. Deshalb sind Aufklärung und Sensibilisierungsarbeit so wichtig.

INTERVIEW: INGA RAHMSDORF