BAD REICHENHALL: DIE SCHULDZUWEISER SIND ZU SCHNELL
: Verfall der Infrastruktur

Die Ursache des Unglücks in Bad Reichenhall ist ungeklärt. Es wird vermutlich sehr genauer Untersuchungen bedürfen, um festzustellen, weshalb das Dach der Eissporthalle eingestürzt ist. Die voreiligen Schuldzuweisungen, die einige Reporter verbreitet haben, sind verantwortungslos. Auch und gerade jenen gegenüber, die jetzt fürchten, sich demnächst vor Gericht verantworten zu müssen. Und die vielleicht dennoch – das ist vorstellbar! – gänzlich schuldlos sind an der Tragödie.

Dieser Unschuldsvermutung wird nicht eingeschränkt, wenn man Bad Reichenhall für ein Menetekel hält: für einen Hinweis auf wachsendes, berechtigtes Misstrauen gegenüber der öffentlichen Infrastruktur. Der Einsturz von Gebäuden in Ländern wie der Türkei oder Russland wird meist achselzuckend zur Kenntnis genommen. Was kann man da schon anderes erwarten? Vielleicht ist der Zeitpunkt erreicht, an dem auch in Deutschland nichts anderes mehr erwartet werden sollte.

Einige Meldungen des gestrigen Tages: Beim Einsturz eines Friedhofsgebäudes in Berlin wurden zwei Menschen verletzt. Das Dach des Bahnhofs Traunstein ist nicht einsturzgefährdet, obwohl der Sicherheitsdienst verdächtige Geräusche gehört hatte. Berlins Wirtschaftssenator sieht sich darin bestätigt, dass er die Deutschlandhalle erst nach gründlicher Prüfung des Dachs wieder eröffnet sehen will. Keine dieser Nachrichten ist für sich genommen spektakulär. Die Gesamtbetrachtung ist alarmierend. Die Vorschrift, öffentliche Bauvorhaben grundsätzlich in der gesamten EU auszuschreiben, kann kurzfristig die Kosten senken. Zugleich jedoch erschwert sie alle Forderungen nach Nachbesserung oder gar Schadenersatz, vor allem dann, wenn die Baufirma Pleite macht.

Noch gravierender ist der Schwund öffentlicher Einnahmen. „Ach, das hält schon noch“ – diese Haltung mag in Privathaushalten vertretbar sein, in öffentlichen Verwaltungen kann sie Leben kosten. Wer die Steuern senken möchte und einen armen Staat in Kauf zu nehmen bereit ist, sollte die möglichen Folgen nicht verschweigen. All das muss unmittelbar nichts mit dem Unglück in Bad Reichenhall zu tun haben. Was entsprechende Überlegungen jedoch nicht überflüssig macht. BETTINA GAUS