„Ein perverses Modell“

Der brasilianische Fußballexperte Juca Kfouri über das Ausbluten der nationalen Fußball-Liga, den Weggang vieler Talente nach Europa, korrupte Vereinsbosse und das Ansehen der Seleção

„Rohstoffexporteurewaren wir schonimmer. Heute sind esauch Arbeitskräfte“

INTERVIEW GERHARD DILGER

taz: Herr Kfouri, nach Angaben des brasilianischen Fußballbundes CBF sind 2005 über 870 Spieler ins Ausland gewechselt, mehr als je zuvor. Wie wirkt sich dieser Aderlass auf den Fußball in Brasilien aus?

Juca Kfouri: Rohstoffexporteure waren wir schon immer. Heute exportieren wir auch Arbeitskräfte. Schuld daran ist das schlechte, unprofessionelle Management der brasilianischen Vereine. Schlimmer noch: Dieses perverse Modell wird vom CBF gefördert, denn ihm gehört das Markenzeichen der besten Mannschaft der Welt: die Seleção. Der CBF hat kein Interesse daran, mit Spitzenclubs zu konkurrieren, wie in den Sechzigerjahren, als Santos mit Pelé oder Botafogo mit Garrincha durch die Welt getourt sind und dem Nationalteam Konkurrenz gemacht haben.

Warum ist das so?

Die Seleção will ihre Spieler in Europa sehen, weil sie dort andere Erfahrungen sammeln. Früher hat man in Brasilien viel davon geredet, wie es ist, gegen stärkere Spieler anzutreten, gegen „bärenstarke“ Deutsche, Engländer oder Italiener. Damit ist es vorbei, denn heute leben unsere Spieler mit diesen Athleten zusammen. Bei Länderspielen haben also eher die Europäer Ehrfurcht vor unseren Stars, denn sie kennen sie und sagen: „Mein Gott, wie sollen wir das schaffen, gegen eine Mannschaft mit Ronaldo, Ronaldinho, Kaká, Adriano, Robinho?“

Wie wichtig ist eine Berufung in die Auswahlmannschaft?

Wer nominiert wird, hat schon einen Fuß außerhalb des Landes. Die Nationaltrainer machen das aus „ideologischen“ Gründen – oder weil sie mitverdienen.

Zum Beispiel Vanderlei Luxemburgo, der von 1998 bis 2000 Nationaltrainer war!

Ich möchte nur sagen: Luxemburgo war einer der „Stars“ im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Thema Korruption im Fußball in den Jahren 2000 und 2001.

Was bedeutet der Ausverkauf für die Vereine?

Mittel- und langfristig schaffen es die Clubs nicht, ein hohes Niveau zu halten. Der FC Santos war 2004 Meister und hat dann die ganze Mannschaft verkauft. Danach waren sie nur Mittelmaß. Es ist wie bei der Henne und dem Ei: Sind die brasilianischen Stadien leer, weil die Idole im Ausland spielen, oder ist es umgekehrt? Ersteres ist wahrscheinlicher, aber natürlich muss man auch die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Brasilien und Europa berücksichtigen. Es gehen allerdings auch Spieler in die Ukraine, in die Türkei, in Länder also, die ökonomisch nicht so stark sind wie Brasilien. Und: Vergleicht man den Umsatz in der Werbebranche bei uns mit jenem in Italien oder Spanien, ist der Unterschied gar nicht so groß.

Es gäbe also Anreize?

Dennoch verlieren wir unsere Spieler zu früh. Ein Spieler von Ronaldos Format würde weggekauft werden, wenn er sich bei der WM auszeichnen würde – sagen wir für 70 Millionen Dollar. In Brasilien gibt es indes wenige große Millionentransfers. Denílson, für den 35 Millionen gezahlt wurden, ist eine Ausnahme. Sonst geht es um 8 oder 10 Millionen Dollar, Beträge, die bei Transfers innerhalb Europas absolut alltäglich sind.

Wer verdient an den Robinhos und Ronaldinhos?

Die cartolas, die „Zylinder“ des brasilianischen Fußballs, wie die Vereinsbosse im Land genannt werden. Das sind sehr reiche Leute. Die Clubs hingegen sind bankrott und setzen auf die Lotterie Timemania oder ähnliche Scheinlösungen. Die Timemania ist der beste Beweis für das schlechte Management – eine Lotterie, damit die Vereine ihre Schulden bezahlen können. Aber das Management-Modell ändert sich dadurch nicht. Man gibt denselben Leuten Geld, die die Vereine ruinieren.

Sind die Reformversuche im Parlament gescheitert?

Der Politiker Aldo Rebelo hat damals den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Korruption geleitet. Als Präsident des Repräsentantenhauses war er gerade auf einer großen Feier der CBF, bei jenen Leuten, die er vor Jahren noch bekämpft hat. Ich habe wenig Hoffnung auf eine politische Lösung.

Nun sind ja nicht alle Fußballlegionäre große Stars. Was bringt so viele Spieler dazu, ihr Glück im Ausland zu versuchen?

Am meisten zählt die Versuchung. Ein Spieler, der weiß, wie schwer es ist, in Brasilien ein Star zu werden, erhofft sich in einem technisch schwächeren Umfeld mehr. Dazu kommt die Art und Weise, wie die brasilianischen Spieler auf der ganzen Welt wahrgenommen werden – als potenzielle Pelés.

Welche Rolle spielen dabei die Verhältnisse in Brasilien?

Das Lohngefälle im Fußball ist ein Abbild der brasilianischen Sozialpyramide. Wir haben eine Kaste von sehr gut verdienenden Spitzenspielern, sie machen aber nicht einmal drei Prozent aus. Dann eine etwas größere Gruppe von Leuten mit Monatsgehältern bis 5.000 Euro. Das Gros verdient viel weniger. Die kann man eigentlich gar nicht als Profis bezeichnen, sie kriegen oft Prämien statt Löhne. Das sind die Tagelöhner des Fußballs.

Können Sie dem Thema Fußballerexport auch positive Seiten abgewinnen?

Nun, wenn ich Nationalist wäre, würde ich sagen: „Das ist ja toll, Brasilien gewinnt ja alle Weltmeisterschaften, in Deutschland könnte Brasilien zum sechsten Mal Weltmeister werden, genauso oft wie Italien und Deutschland zusammen, Klasse!“ Alle vier Jahre haben wir so ein Fest, doch das bewegt mich nicht. Mir wäre es tausendmal lieber, eine Liga wie in Spanien zu haben, auch wenn das bedeuten würde, nicht den WM-Titel zu gewinnen. Normalerweise ist den Fans der eigene Club viel wichtiger als die Nationalmannschaft. Für die Fans des FC São Paulo bedeutet der dritte Weltpokalsieg unendlich mehr als ein WM-Titel – auch, weil man andere so gut damit aufziehen kann. Die Seleção ist Weltklasse, unsere Liga leider nicht.

Warum hat São Paulo trotzdem gerade die Club-WM gegen den FC Liverpool gewonnen?

Unser großer Schriftsteller Euclides da Cunha hat einmal gesagt, der Bewohner des Sertão, des armen Nordostens, ist stark. Genauso könnte man sagen, der brasilianische Fußballspieler ist stark. Trotz aller Widrigkeiten schafft es São Paulo, den Weltpokal zu holen – ohne einen einzigen Stammspieler der Seleção!