Genossen zweifeln an Atomausstieg

Über die Laufzeiten von Reaktoren müsse neu nachgedacht werden, fordert der SPD-Europapolitiker Norbert Glante

BRÜSSEL taz ■ In der SPD regt sich Widerstand gegen den Atomkonsens. Bei einem energiepolitischen Stammtisch in Brüssel sagte der brandenburgische Europaabgeordnete Norbert Glante, SPD, seine Partei blende die Atomkraftdiskussion in Europa völlig aus. „Rundherum entwickelt sich diese Industrie. Doch die Sozialdemokraten zu Hause wollen die besseren Grünen sein. Über die Laufzeit von Kernkraftwerken muss neu nachgedacht werden.“

Der SPD-Parteivorsitzende und brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck hatte noch am Dienstag jeden Richtungswechsel in dieser Frage ausgeschlossen. „Es bleibt beim Atomausstieg.“ Ganz anders liest es sich in einem Diskussionspapier, mit dem der energiepolitische Stammtisch in Brüssel „eine breitere und offene Diskussion in der Partei initiieren“ will. „CO2-freie Kohlekraftwerke, sichere Kernenergie und erneuerbare Energien sowie Maßnahmen zum effizienten Umgang mit Energie müssen gleichermaßen entwickelt werden.“ Versorgungssicherheit sei zunehmend eine „europäische, wenn nicht globale Aufgabe“.

Die derzeitige Lage malt der Bericht in düsteren Farben. Der veraltete Kraftwerkpark in Europa werde in den kommenden Jahrzehnten Investitionen zwischen 200 und 300 Milliarden Euro erfordern. Europäische Firmen verfügten weder über genug Produktionskapazitäten noch über ausreichend Fachkräfte. Die Erneuerung sei also „ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für außereuropäische Firmen“. Zudem weisen die Politiker auf die zunehmende Abhängigkeit in der Energieversorgung von Importen aus dem Ausland hin. 2030 werde 90 Prozent des Erdöls und 80 Prozent des Erdgases von außerhalb der EU eingeführt werden müssen.

Der Gazprom-Schock vom Jahresbeginn hat dazu geführt, dass die Europäer in der Energiepolitik enger zusammenrücken wollen. Polens Regierung will die EU-Staaten für einen Energiebeistandspakt gewinnen. Dieser soll ähnlich dem Nato-Pakt dafür sorgen, dass alle Paktmitglieder ein Land verteidigen, dem der Gashahn abgedreht wird. Europäische Energiepolitik sei zunehmend auch Außenpolitik, schreiben zu diesem Thema die SPD-Energiepolitiker. „Europa ist dazu berufen, dem globalen Zugriff auf Öl den Stachel des Konflikts zu ziehen. Es darf nicht zu Kriegen um Rohstoffe kommen.“

Darin sind sich Europas Regierungen sicher einig. Doch die Vorstellungen, wie die Energieversorgung gesichert werden soll, gehen weit auseinander. Der österreichische Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sagte es letzte Woche im Europaparlament klipp und klar: „Aus österreichischer Sicht ist die Nutzung der Kernenergie keine Option.“ Frankreichs Präsident Jacques Chirac dagegen legte ein Memorandum vor, das zwar auf mehreren Seiten erörtert, wie Energie besser genutzt werden kann. Doch am Ende heißt es lapidar, der bisherige Anteil von 34 Prozent Atomenergie am Energiemix müsse erhalten bleiben.

Europas Bürger dagegen setzen laut jüngster Eurobarometer-Umfrage mehrheitlich auf erneuerbare Energien. Nur 12 Prozent wollen die Atomkraft weiter ausbauen. Immerhin 40 Prozent der Befragten wären bereit, für Erneuerbare deutlich mehr zu bezahlen als für Gas, Kernkraft oder Öl. In Osteuropa allerdings ist diese Bereitschaft deutlich geringer ausgeprägt als im Westen.

DANIELA WEINGÄRTNER