„Judenmorde kein Motiv des Widerstands“

Die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 haben am Holocaust mitgewirkt, sagt der Münchener Historiker Johannes Hürter. Er hat damit eine kontroverse Debatte um die Rolle der hingerichteten Wehrmachtsoffiziere entfacht

taz: Herr Hürter, 61 Jahre nach Kriegsende bahnt sich wegen Ihrer Thesen eine Historikerdebatte über den militärischen Widerstand des 20. Juli an. Wie konnte es dazu kommen?

Johannes Hürter: Die Erinnerung an den Widerstand ist noch immer von der älteren Forschung geprägt, die den Aussagen der Zeitzeugen nahezu blind vertraute. Dieses geschönte Bild erlebte bei den Gedenk-Events vor zwei Jahren eine neue Konjunktur. Kritische Stimmen, die es auch früher immer gab, passen da nicht recht hinein. Die Verschwörer mit dem Judenmord in Verbindung zu bringen, gilt als Sakrileg, auch bei vielen Historikern.

Auf was sind Sie gestoßen?

Die Einsatzgruppe B informierte den Stab der Heeresgruppe Mitte bereits in den ersten Feldzugswochen umfassend über die Massenmorde an jüdischen Männern. Tresckow und Gersdorff zeichneten diese Berichte ab. Nach dem Krieg hat Gersdorff diese frühe Kenntnis strikt geleugnet. Diesen Widerspruch verknüpfe ich mit Belegen für die anfänglich gute Zusammenarbeit der späteren Widerständler, besonders Gersdorffs, mit den SS-Leuten. Daraus ziehe ich den zwingenden Schluss, dass die Judenmorde des Sommers 1941 kein Motiv für den Weg in den Widerstand gewesen sein können. Erst als im Herbst 1941 massenhaft auch Frauen und Kinder umgebracht wurden, änderte sich das.

Woher haben Sie die Dokumente?

Die Dokumente wurden von der Roten Armee erbeutet und später der DDR-Justiz für Verfahren gegen NS-Verbrecher zur Verfügung gestellt. Dann verschwanden sie im Stasi-Archiv. Vor einigen Jahren stieß ich bei historischen Recherchen in der Birthler-Behörde überraschend auf die Spuren Tresckows und Gersdorffs. Vor zehn Jahren hatte man ähnliche Quellenfunde von Christian Gerlach heruntergespielt. Hier war aber so unmissverständlich von Massenmord die Rede, dass mir sofort klar war: Die Debatte muss neu aufgerollt werden.

Was können diese Akten beweisen?

Die Dokumente beweisen die frühe und umfassende Kenntnis vom Massenmord im Gebiet der Heeresgruppe Mitte. Diese Widerlegung der späteren Aussagen Gersdorffs und Schlabrendorffs konfrontiere ich mit anderen Dokumenten und Indizien. Etwa mit einer Zeugenaussage Gersdorffs vom Mai 1959: Unter den Agenten seien sehr viele Juden, und die Juden seien krimineller als die übrige russische Bevölkerung gewesen. Oder mit dem Lob des SS-Führers Nebe: Die Führung der Heeresgruppe habe ihnen viel mehr Spielraum für ihre Mordtätigkeit gelassen, als das eigentlich vorgesehen war. Für mich zeigt das: Die sowjetischen Juden waren auch den Offizieren der Militäropposition suspekt. Also akzeptierten sie zunächst, dass die SS viele dieser potenziellen Unruhestifter aus dem Weg räumte. Man wollte vor allem eines: den schnellen Sieg über den „jüdisch-bolschewistischen“ Erzfeind.

Wiederholt sich beim 20. Juli die Debatte um die Wehrmachtsausstellung?

Diese Debatte hat das Bild von der „sauberen Wehrmacht“ ein für alle Mal zerstört. Umso stärker klammert sich die öffentliche Erinnerung jetzt an die positiven Ausnahmen. Als solche gelten besonders die Männer der Militäropposition. Doch auch diese „heiligen Kühe“ waren Soldaten, die im Vernichtungskrieg lange funktionierten.

Der Historiker Hermann Graml, wirft Ihnen vor, Ihre Vorwürfe hingen „ohne Grundlage frei in der Luft“. Ein Generationenkonflikt?

Nicht alle Historiker der älteren Generation teilen die Ansichten Hermann Gramls. Doch fällt es jüngeren Historiker sicher leichter, sich von den Dogmen einer überholten Geschichtspolitik frei zu machen. Die nüchterne Sachlichkeit zwingt dazu, gegen die Heroisierung des Widerstands Stellung zu beziehen. Die zentrale Frage nach den Motiven des Widerstands darf sich nicht auf die Moral beschränken, sondern muss auch andere Faktoren wie den Kriegsverlauf berücksichtigen. Es geht nicht um den erhobenen Zeigefinger, sondern um die Erkenntnis: Der Weg zum Staatsstreich war von biografischen Brüchen und Widersprüchen geprägt. Moralisierend ist, dass Graml den Widerständler ohne Fehl und Tadel postuliert. Die Widerstandsforschung muss sich mit Menschen und nicht mit Ikonen beschäftigen.

Graml leitet das Widerstandsmotiv aus einem preußischen Offiziersethos ab. Ist ein heutiger Moralhorizont zur Bewertung der historischen Rolle dieser Wehrmachtsoffiziere angemessen?

Das Hohelied auf das alte Preußentum und den ostelbischen Adel, das Graml anstimmt, geht an der Sache vorbei. Diese angebliche Elite mit ihren Ehrbegriffen hat tausendfach an NS-Verbrechen mitgewirkt.

Sie sprechen von einem „verzögerten Einsetzen der Moral“ bei den betreffenden Offizieren.

Zur historischen Gerechtigkeit gehört, dass man den Tresckows und Gersdorffs biografische Entwicklungen zugesteht. Auch sie wurden nicht als Helden geboren. Die Entwicklung zum Widerständler war äußerst komplex und besaß gleichermaßen ethische wie militärisch-politische Motivlagen. Dabei wurde häufig geirrt und gefehlt. Im Sommer 1941 wurde der militärische Erfolg über die Menschenrechte gestellt – ganz offensichtlich auch in der Gruppe um Tresckow. Dies darf ich als Historiker nüchtern konstatieren. Die moralische Bewertung überlasse ich anderen. Ich untersuche nicht den Charakter von Personen, sondern ihr Verhalten.

Was meinen Sie dabei mit „geschichtspolitischer Überfrachtung“ des 20. Juli?

Die Geschichtspolitik hat nach dem Krieg einige Mühe gehabt, die Hitler-Attentäter im öffentlichen Bewusstsein von Verrätern zu Vorbildern zu machen. Dieses Ziel war aller Ehren wert, führte aber zugleich zu einer Komplexitätsreduktion – auch in der Forschung. Das idealisierte Bild hat sich trotz neuer Forschungsergebnisse bis heute gehalten. Differenzierte oder gar kritische Meinungen können sich gegen den Mythos nur langsam durchsetzen.

Spiegeln Geschichtshelden bloß die Konjunkturen eines wechselnden moralischen Zeitgeistes wider?

Es geht mir nicht um eine Revision des 20. Juli, sondern um die Ergänzung des Widerstandsbilds um ein Detail: die Korrumpierung von oppositionellen Offizieren durch eine verbrecherische Kriegsmaschinerie in einigen Monaten des Jahres 1941. Ob ein solcher Erkenntnisfortschritt dem Zeitgeist entspricht, interessiert mich nicht.

Können diese Wehrmachtsoffiziere in einer Demokratie jetzt noch als Vorbilder dienen?

Die Tatkraft und den Mut der Widerstandskämpfer stelle ich nicht infrage. Anders als die allermeisten Deutschen und alle ihre Vorgesetzten haben sie in einem vielschichtigen Prozess das Unrecht erkannt und sich zum Handeln durchgerungen. In diesem Sinne sind sie auch für mich Helden. Man sollte aber wissen, wer sie waren und wie sie zu dem wurden, was wir an ihnen bewundern. Die Scheu vor gebrochenen oder lädierten Helden, sprich: vor Menschen, kann ich nicht verstehen. Wer in der Widerstandsforschung nur Schwarz-Weiß-Malerei gelten lässt, verbiegt die Geschichte.

INTERVIEW: JAN-HENDRIK WULF